Es ist 19.57 Uhr und damit drei Minuten vor der Zeit, zu der Joe Biden laut Medienberichten angeblich ins Bett gehen muss, als der amerikanische Präsident so richtig aufdreht. Der 81-Jährige steht auf einer Bühne des Washingtoner Konferenzzentrums, wo in den vergangenen Tagen die Staats- und Regierungschefs der 32 Nato-Staaten über die düstere Weltlage beraten haben. Hinter seinem Rücken prangt groß die weiße Kompassrose der Verteidigungsallianz. Einer für alle. Alle für einen. Das war mal. Nun steht einer für sich alleine.
„Herr Präsident, ihre politische Zukunft hängt in der Luft. Wie gehen Sie damit um?“, ist er zu Beginn der Pressekonferenz gefragt worden. Und: „Haben Sie darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn Sie im Rennen bleiben und unterliegen?“ Bidens Stimme war belegt, oft hat er sich geräuspert, und einmal seine Stellvertreterin Kamala Harris versehentlich als „Vizepräsident Trump“ bezeichnet - der zweite schwere Patzer an diesem Tag, nachdem er bei einer anderen Veranstaltung den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit den Worten vorstellte: „Meine Damen und Herren: Präsident Putin.“
Trump. Putin. Seine schlimmsten Gegner. Ausgerechnet. Unwillkürlich fühlt man sich an das desaströse TV-Duell mit seinem Herausforderer Donald Trump vor zwei Wochen erinnert. Die Debatte darüber, ob er damals tatsächlich nur unter einer Erkältung oder dem Jetlag litt oder ihn doch ernsthaftere Probleme plagen, hat in den USA seither alle anderen Themen verdrängt. Und auch diese Pressekonferenz scheint sie komplett zu überschatten.
Plötzlich wirkt Joe Biden wie ausgewechselt
Dann aber, nach einer halben Stunde, ruft der Präsident den Journalisten David Sanger für eine Frage auf. „Sei nett, David!“, quält sich Biden einen Scherz ab. Tatsächlich erkundigt sich der Sicherheitsexperte der New York Times nach einer Strategie gegen die Annäherung der amerikanischen Erzrivalen Russland und China. Mit einem Mal scheint der Mann am Rednerpult wie ausgewechselt.
Ohne Teleprompter und Notizzettel setzt er zu einer viertelstündigen Rede an, die von Peking über Nordkorea und den Iran bis in die Ukraine und nach Israel führt. Dann geht es von den Terroranschlägen des 11. September über die fatalen Fehler des Afghanistan-Krieges bis zu den Lehren, die der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu daraus leider nicht ziehen will.
Plötzlich steht da jener durch 36 Senatsjahre gestählte Geopolitiker, den die ausländischen Gäste beim Nato-Gipfel gepriesen haben. „Ich bin entschlossen anzutreten“, sagt er mit fester Stimme: „Ich muss den Job zu Ende bringen.“ In diesem Moment klingt es logisch.
Die meisten Amerikaner halten Joe Biden für zu alt
Das Problem ist, dass derselbe Mann bei der TV-Debatte mit zahlreichen krassen Patzern und Aussetzern den großen Zerstörer und Lügner Trump wie einen klugen Weltenlenker hatte aussehen lassen. Dreiviertel der Bevölkerung halten den Präsidenten für zu alt, zwei Drittel wollen seinen Ausstieg aus dem Rennen ums Weiße Haus. Zusammen mit früheren Ausrutschern, Enthüllungen über vertuschte Gesundheitsprobleme, einem politischen Stimmungsabsturz in den wichtigen Swing States und einer störrischen Bunkermentalität der Präsidenten-Familie hat das viele Demokraten in Panik versetzt.
Mit Biden als Präsidentschaftskandidat steuere die Partei auf eine „verheerende“ Niederlage bei den Wahlen im November zu, die Trump die Mehrheiten in beiden Kongresskammern und dank des strammrechten Verfassungsgerichts die wirklich „uneingeschränkte Kontrolle des Landes“ auf dem Silbertablett servieren könnte, hat der frühere Obama-Berater David Axelrod die Horrorvision klar ausgebreitet. Die liberalen Blätter Washington Post und New York Times haben Biden eindringlich zum Rückzug aufgefordert.
Seither erleben die USA ein Polit-Drama, das jede griechische Tragödie in den Schatten stellt. Die Vorwahlen der Demokraten sind ja längst vorbei, Joe Biden hat sich 90 Prozent der Delegiertenstimmen gesichert, seine offizielle Krönung auf dem Parteitag in Chicago in fünf Wochen wäre eigentlich reine Formsache. Nur der Präsident selbst kann sie jetzt noch stoppen. Doch der denkt nicht daran. Seine parteiinternen Kritiker aber haben eine beispiellose Demontage des eigenen Kandidaten losgetreten.
Wie verheerend die Lage ist, kann man im Briefing Room des Weißen Hauses spüren, wo Bidens Sprecherin Karine Jean-Pierre in normalen Zeiten täglich Journalistenfragen zur Weltpolitik beantwortet. Seit zwei Wochen geht es in dem Raum mit lediglich 49 Sitzplätzen ausschließlich um ärztliche Check-ups, eine angebliche Parkinson-Erkrankung (die dementiert wird) und innerparteiliche Rückzugsforderungen.
Eine Meile östlich, auf dem Kapitolshügel, macht sich derweil fiebrige Nervosität breit. Mehr als ein Dutzend Abgeordnete und Senatoren haben Biden zum Ausstieg aus dem Rennen aufgefordert. Viele andere äußern sich in vertraulichen Gesprächen skeptisch oder resigniert.
Immerhin: Man redet. Tagelang hatte es Biden aus Trotz und Sturheit nach seinem TV-Desaster nämlich nicht für nötig gehalten, sich der Öffentlichkeit oder zumindest den demokratischen Parlamentariern zu erklären. Er habe halt „eine schlechte Nacht“ gehabt, lautete seine lapidare Erklärung. In dieser Woche nun hat er eine massive Gegenoffensive gestartet. Begonnen hat dieser verzweifelte Versuch am frühen Montagmorgen. Da rief Biden überraschend in der Frühstücksfernsehsendung „Morning Joe“ des linksliberalen Senders MSNBC an und wetterte über politische „Eliten“, die gegen ihn kämpften. Draußen im Land hingegen erlebe er „eine enthusiastische Menge“.
Nancy Pelosi fällt ihrem einstigen Verbündeten in den Rücken
Doch nicht überall herrscht Begeisterung. Nancy Pelosi zum Beispiel, die ehemals dritthöchste Person im Staat und lange die wichtigste politische Verbündete des Präsidenten, hatte sich auffällig lange nicht zu Biden bekannt. Am Mittwoch plötzlich saß die Grande Dame der Demokraten, die inzwischen nur noch einfache Abgeordnete ist, überraschend in der „Morning Joe“-Talkshow. Mit 84 Jahren ist sie zwar noch älter als Biden, aber die gewiefte Taktikerin formuliert mit der Schärfe eines Präzisionsmessers. „Es ist Sache des Präsidenten zu entscheiden, ob er kandidiert“, sagte sie, so als habe der Präsident dies nicht längst unmissverständlich erklärt: „Wir alle ermutigen ihn, diese Entscheidung zu treffen.“
George Clooney fordert den Präsidenten zum Rückzug auf
Hollywoodstar George Clooney, ein wichtiger Großspender der Demokraten und überdies Freund von Ex-Präsident Barack Obama, wurde am nächsten Tag deutlicher. „Ich liebe Joe Biden. Aber wir brauchen einen neuen Kandidaten“ war sein vernichtender Gastbeitrag in der New York Times überschrieben, in dem der Schauspieler den Präsidenten aufforderte, mit seinem Rückzug die amerikanische Demokratie vor Trump zu bewahren.
Doch Biden gräbt sich immer tiefer ein. „Ich bin am besten qualifiziert für den Job und ich bin am besten qualifiziert zu gewinnen“, verkündet er selbstbewusst in der Pressekonferenz. Tatsächlich aber deuten sechs von sieben aktuellen Umfragen auf ein Desaster im November hin. Doch Biden behauptet munter: „Niemand sagt das“.
Ein wenig Hoffnung schimmert noch durch: Biden ist zumindest nicht schon dem Korsakov-Syndrom nahe wie "Flasche" Medvedev.
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