Am Ende ging alles ganz schnell. Fünfmal hatte das polnische Verfassungstribunal sein mit Hochspannung erwartetes Urteil zum Vorrang von nationalem oder europäischem Recht vertagt. Am Donnerstagabend war es so weit. Gerichtspräsidentin Julia Przylebska zitierte minutenlang Paragrafen und Artikel, um zu diesem Schluss zu kommen: Zentrale Bestimmungen der EU-Verträge „sind nicht vereinbar mit der polnischen Verfassung“.
Nach Auffassung des Tribunals hat in fundamentalen Fragen der nationalen Politik, etwa bei den umstrittenen Justizreformen, nicht der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg das letzte Wort. Die Entscheidungen träfen das polnische Parlament, die Regierung und der Präsident. Andernfalls könne „die Republik als souveräner Staat nicht funktionieren“.
Fachleute haben vor dem Urteil gewarnt
Die regierungskritische Gazeta Wyborcza titelte wenige Minuten nach der Urteilsverkündung: „Das Verfassungstribunal erschüttert das Fundament der EU“. Tatsächlich dürften Polen und die EU nun in ihrem Streit über die Rechtsstaatlichkeit auf eine frontale Konfrontation zusteuern. Nicht von ungefähr hatten Staatsrechtler, Politikerinnen und Politiker in Europa bis hin zur scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel eindringlich vor einem solchen Urteil gewarnt. EU-Justizkommissar Didier Reynders nannte schon das Verfahren „eine reale Bedrohung für die gesamte Architektur der EU“. Denn die Staatengemeinschaft definiert sich als Rechtsgemeinschaft, die nun auf dem Spiel steht.
Der oberste Schiedsrichter sitze in Warschau, heißt es
Nach den EU-Verträgen haben die Mitgliedsländer einen Teil ihrer nationalen Souveränität an die Gemeinschaft abgetreten. So steht es auch in der polnischen Verfassung. Dem EuGH kommt dabei nach dem durch Gewohnheitsrecht etablierten Verfahren die Rolle eines Schiedsrichters zu. Genau den will Polen nun nicht länger anerkennen. Der oberste Schiedsrichter sitze in Warschau. Das sei „der Polexit im Bereich des Rechts“, erklärte Beata Morawiec, die Vorsitzende des polnischen Richterbundes „Themis“, schon im Vorfeld der Entscheidung.
Kanzlerin Merkel hatte bei ihrem Abschiedsbesuch in Warschau versucht, die rechtsnationale PiS-Regierung vom Weg der Konfrontation abzubringen. Politik sei „doch mehr, als vor Gericht zu gehen“, hatte sie im Gespräch mit Premier Mateusz Morawiecki erklärt. Damit spielte sie darauf an, dass Morawiecki selbst das Urteil des Verfassungstribunals beantragt hatte. Da die PiS das Gericht schon vor Jahren unter ihre Kontrolle gebracht hat, galt das Verfahren von Anfang als politisches Druckmittel der PiS im Streit mit der EU-Kommission.
Brüssel: Frontalangriff auf den Rechtsstaat
Brüssel sieht in der PiS-Politik einen Frontalangriff auf den Rechtsstaat und hat mehrere Verfahren gegen Polen eingeleitet. Der EuGH stimmte der Sicht der Kommission in mehreren Urteilen zu und verlangte eine Rücknahme der Regelungen. So sollte die Regierung eine politisch kontrollierte Disziplinarkammer wieder abschaffen. Die Unabhängigkeit der Justiz sei im Kern bedroht, entschied der EuGH. Erst am Mittwoch hatte das Luxemburger Gericht seine Sicht bestätigt und erneut für Empörung in Warschau gesorgt. Morawiecki sprach von einem Versuch, Polen zu destabilisieren. „Das können wir nicht zulassen.“ Justizminister Zbigniew Ziobro, der die härteste Linie in der Regierung vertritt, sagte: „Polen soll erpresst werden.“
Dabei spielte er auch darauf an, dass die EU-Kommission seit Monaten ihre Zustimmung zu dem Warschauer Corona-Wiederaufbauplan verweigert. Polen stehen aus dem Fonds bis zu 57 Milliarden Euro zu. EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni hatte kürzlich erklärt, dass das Geld nur fließen werde, wenn Polen den Vorrang von europäischem vor nationalem Recht anerkenne. „Und das weiß die Regierung in Warschau auch.“
Für einen Polexit ist kein Referendum nötig
Das Urteil nun dürfte aber nicht nur die EU in eine Krise stürzen, sondern vor allem in Warschau für heftige Debatten sorgen. Denn Regierung und Opposition streiten bereits über die Möglichkeit eines Polexits, also eines Austritts des Landes aus der EU. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski, der eigentliche starke Mann in der Regierung, hatte erklärt: „In der EU ist das Prinzip der Gleichheit der Mitgliedsstaaten auf drastische Weise verletzt. Wir wollen Mitglied bleiben, aber auch ein souveräner Staat sein.“ In Polen ist, anders als vor dem Brexit in Großbritannien, kein Referendum für einen Austritt nötig.