Die Bilder brennender Autos und wüster Schlachten von Randalierern mit der Polizei in Frankreichs Vorstädten erinnern an stets gleiche Konflikte in den vergangenen Jahren. Nach dem Tod eines Jugendlichen durch einen Polizeischuss bei Paris und einer dritten Krawallnacht in Folge geht bei Frankreichs Politikern jetzt das Schreckgespenst der Unruhen von 2005 um. Drei Wochen lang gab es damals nach dem Tod zweier von der Polizei verfolgten Jugendlichen heftige Unruhen. Diese stürzten das Land in eine Krise mit Notstandsrecht und Ausgangssperren.
Die Regierung ist entsprechend alarmiert, Präsident Emmanuel Macron berief am Freitag eine Krisensitzung ein. Anders als von manchen erwartet rief er allerdings nicht den Notstand aus, sondern beließ es bei einem Appell an Eltern, ihre jugendlichen Kinder von der Teilnahme an gewaltsamen Protesten zurückzuhalten. Auch gegen Aufrufe zu Krawallen in den sozialen Netzwerken wollte er einschreiten.
Für den Staatschef und Frankreich steht einiges auf dem Spiel. Gerade erst überwunden ist der zähe Konflikt um die Rentenreform, der zu Massenprotesten mit Krawallen und etlichen Streiks führte, die das Land behinderten. Im Anschluss versuchte Macron mit eilends angekündigten schnellen Verbesserungen in vielen Bereichen seiner Regierung, die durch den Verlust der absoluten Mehrheit im Parlament seit einem Jahr gebremst wird, zu neuem Schwung verhelfen. Eine erste Bilanz wollte Macron am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, ziehen. Nun steht er, wie 2018 beim Start der Gelbwesten-Proteste, plötzlich vor einer landesweiten Krise, die ihm vollkommen entgleiten könnte.
Sprengkraft schnell erkannt
Dabei erkannte Macron die Sprengkraft der Videobilder schnell, die zeigten, wie ein Beamter bei der Kontrolle in Nanterre ohne konkrete Notlage auf einen 17-jährigen Autofahrer schoss. "Wir haben einen Jugendlichen, der getötet wurde, das ist nicht zu erklären und nicht zu entschuldigen", sagte der Präsident und nahm seinem Innenminister jede Möglichkeit, sich schützend vor die Beamten zu stellen. Das Eingeständnis einer Polizeipanne durch den Präsidenten und kurz darauf auch durch Premierministerin Élisabeth Borne aber reichte nicht aus, um die Krawalle zu stoppen. Ebenso wenig wie der Umstand, dass der Beamte wegen des Verdachts auf Totschlag in Untersuchungshaft kam.
Seit 2005 nämlich hat sich die Lage für die Vorstadtbewohner, von denen viele einen Migrationshintergrund haben, nicht grundlegend verbessert. Zwar wurden Milliardensummen in die Entwicklung der Hochhaussiedlungen gepumpt, die Ghettoisierung der Viertel und die Isolation ihrer Bewohner aber nicht durchbrochen. Drogenhandel, hohe Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit grassieren. Viele Menschen in den Quartieren fühlen sich diskriminiert und meinen, in einem rassistischen Land zu leben. Von der Politik fühlen sie sich nicht repräsentiert und die Zersplitterung der französischen Gesellschaft ist an der Lage in den Cités, den Hochhaussiedlungen, ablesbar.
Krawalle gehen auf längere Geschichte zurück
"Was in Nanterre geschieht, ist eindeutig Teil einer längeren Geschichte", sagte Soziologe und Vorstadtforscher Julien Talpin am Freitag der Zeitung "Libération". "Ein solches Ausmaß hatten wir seit 2005 nicht mehr erlebt." Seit dem Tod von George Floyd 2020 in den USA habe es in Frankreich keine Fortschritte beim Thema Polizeigewalt gegeben. "Im Gegenteil, es gab eine Intensivierung der Polizeigewalt und es gab eine völlige Verschlossenheit der Institution gegenüber Reformforderungen." In gewisser Weise sei der jetzige Flächenbrand eine Folge der Taubheit der Macht gegenüber Forderungen, die zuvor friedlich geäußert worden seien.
Und wie kommt Frankreich nun heraus aus der Krise, was kann die Krawalle stoppen? Den Ruf nach einer grundlegenden Reform der Polizei, die für viele in den Hochhaussiedlungen der Gegner Nummer eins ist, gibt es bereits. Allerdings lässt sich ein Wandel der als repressiv kritisierten Polizei nicht gegen die Ordnungsmacht selbst verordnen, die von der Politik eher mehr Handhabe bei ihren Einsätzen in den Vorstädten fordert. Die Ankündigung einer großen Polizeireform dürfte es von jetzt auf gleich also kaum geben.
Wie Soziologe Talpin sagt, reicht das Problem ohnehin über die Polizei hinaus. Die Vorstadtbewohner beschuldigten auch den Staat und seine Institutionen, zu diskriminieren und den Armenvierteln weniger Chancen zu bieten. Dies geschehe über einen diskriminierenden Diskurs, weil keine konkreten Maßnahmen für die Viertel ergriffen würden und weil Rassismus aus Sicht der Bewohner nicht wirksam bekämpft werde. Zur Überwindung all dieser ungelösten Konflikte und sozialen Brüche, die nun plötzlich ins Rampenlicht rücken, haben Macron und seine Regierung bislang keinen großen Plan vorgelegt.
(Von Michael Evers, dpa)