Die Menora steht noch in der Ecke, die Tür daneben ist verkohlt, genau wie Wände, Böden und Decken in der ältesten Synagoge von Dagestan. So zeigen es Videos, nachdem hier, in Derbent, einer 125.000-Einwohner-Stadt in der russischen Teilrepublik am Kaspischen Meer, wie auch in der Regionalhauptstadt Machatschkala mit seinen etwa 660.000 Einwohnern am Sonntagabend mehrere bewaffnete Männer jüdische und christliche Gotteshäuser überfallen, teils angezündet, einem russisch-orthodoxen Priester die Kehle durchgeschnitten, einen Polizeiposten angegriffen und – nach offiziellen Angaben – mehr als 15 Polizisten getötet und mehrere Zivilisten verletzt hatten.
Die russischen Behörden sprachen von einem Terroranschlag und ordneten im vorwiegend muslimischen Dagestan eine dreitägige Trauer an. Fünf Angreifer sollen getötet worden sein, drei von ihnen sollen Söhne, einer der Neffe eines hohen Beamten der Region sein. Der Mann wurde bereits in der Nacht verhört und am Montag aus der Regierungspartei „Einiges Russland“ ausgeschlossen. „Das Problem der Radikalisierung im Nordkaukasus lösen die Behörden seit Jahren lediglich formal. Sie gehen ihm nicht auf den Grund. Deshalb kommt es immer wieder zu Anschlägen“, sagte die Soziologin Saida Siraschudinowa dem russischen Exil-Sender „Doschd“.
Dagestan ist eine arme Region
Dagestan ist eine Vielvölkerregion. Der Anschlag zerstört die Illusion, dass die Gegend, die seit den 1990ern immer wieder Schauplatz von Gewalt und Gegengewalt war, mittlerweile zu einem ruhigen Touristen-Hotspot geworden ist. Arm ist die Region geblieben. Von hier aus ziehen viele junge Männer in den Krieg in der Ukraine, weil sie sonst keine andere Möglichkeit sehen, wirtschaftlich auf die Beine zu kommen. Der Krieg aber zerstört nicht nur das ohnehin schwache Vertrauen in die staatlichen Institutionen im Land, es zerstört das Vertrauen zu jedem Einzelnen.
Das Oberhaupt der Republik, Sergej Melikow, sagte in einer Videobotschaft, die Situation sei unter Kontrolle und sprach davon, dass die „Verantwortlichen für diese Tat bekannt“ seien. Wen er damit meint, erklärte er nicht. Bislang hat niemand die Tat für sich reklamiert. Einzelne russische Politiker sahen in den Schießereien von Dagestan eine „ukrainische Spur“. Es ist fast schon ein Reflex der offiziellen Politik, jede Schuld für die Missstände im Land der Ukraine und dem Westen zuzuschieben. Melikow hatte bereits im vergangenen Oktober die „Feinde“ in der Ukraine vermutet, als ein Mob den Flughafen von Machatschkala gestürmt hatte, weil dort ein Flugzeug aus Tel Aviv gelandet war. Mit lauten „Allahu Akbar“-Rufen hatten die Männer selbst in Flugzeugturbinen nach jüdischen Menschen gesucht. Auch als islamistische Täter – aus Tadschikistan in Zentralasien stammend – im März dieses Jahres die Konzerthalle "Crocus City Hall" bei Moskau stürmten und mehr als 140 Menschen töteten, sah Russlands Präsident Wladimir Putin in der „barbarischen Tat“ eine „Verbindung zur Ukraine“. Dabei hatte sich der IS-Ableger Khorasan nach dem Überfall, einem der schlimmsten Terroranschläge der vergangenen Jahre in Russland, zu der Tat bekannt. Für den Kreml könne Russland „einfach nicht Ziel terroristischer Angriffe fundamentalistischer Terroristen“ sein, hieß es damals.
Behörden fehlt die Kraft, sich mit dem radikalen Islam zu beschäftigen
Doch in Dagestan zeigt sich auf brutale Weise, wie es das kann. „Es ist nicht die soziale Ungleichheit allein“, sagt Soziologin Siraschudinowa. „Den Behörden fehlt der Wille und auch die Kraft, sich den realen Gefahren zu stellen: Gesetzesbrüche sind quasi normal, die Behörden sind sich dessen bewusst, manche Beamten unterstützen gar die sich radikalisierten Gruppierungen. Und Moskau ist ohnehin mit anderem beschäftigt, für die Zentralregierung ist derzeit anderes wichtig.“ Den radikalen Islam im eigenen Land scheint es zu übersehen.