An Einschränkungen ihres Alltags durch Politikerbesuche haben sich die Hauptstädter im Großen und Ganzen gewöhnt. Kurzzeitige Straßensperrungen werden mit stoischer Ruhe ertragen, manchmal ist es aber selbst mit der Gelassenheit der Berlinerinnen und Berlin vorbei. Wie beim Besuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, bei dem umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen am Freitag große Teile der Innenstadt lahmlegten. Erdogans Visite forderte aber auch der deutschen Politik große Geduld ab: Der Präsident machte Israel erneut erhebliche Vorwürfe.
Erdogan und Scholz stellten sich vor ihrem Vier-Augen-Gespräch der Presse. Vielfach war ein Eklat erwartet worden. Der blieb zwar aus. Erdogans Äußerungen dürften aber die nächsten Tage für einigen Gesprächsstoff sorgen. In der abgehackten und möglicherweise nicht ganz vollständigen deutschen Übersetzung erklärte der Präsident „ganz offen“, dass zwar über den 7. Oktober – also den Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel – gesprochen werde, nicht aber „über das Prozedere“ danach. Erdogan nannte die Tötung von 13.000 Kindern, Frauen und alten Menschen im Gaza-Streifen. Gaza sei nicht mehr vorhanden, „denn es ist dem Erdboden gleichgemacht worden“.
Erdogan erhebt Vorwürfe gegen Israel
Erdogan machte weiter deutlich, dass zwar über die militärische Stärke der Hamas, nicht aber über die Israels gesprochen werde. Israel habe Atomwaffen, leugne das aber, meinte der Präsident. Gotteshäuser, Kirchen oder Krankenhäuser würden zerbombt, Kinder getötet. „Welchen Preis zahlen wir, wenn wir nichts tun?“ Mit Blick auf den Holocaust erklärte der Präsident: „Wir haben keine Schulden bei Israel.“ Er selbst habe sich immer gegen Antisemitismus ausgesprochen, auch deshalb habe die Türkei „keine Schulden“. Der Präsident sprach sich für eine Zwei-Staaten-Lösung nach den Grenzen von 1967 aus. Ein Vorschlag, den auch Länder wie Frankreich unterstützen.
Kanzler Scholz erklärte mit Blick auf die Lage im Nahen Osten, die Hamas habe Israel „auf barbarische Weise angegriffen“ und ergänzte: „Jedes Leben ist gleich viel wert: Auch das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza bedrückt uns.“ Die Zwei-Staaten Lösung „bleibt für uns das erklärte Ziel“, sagte er.
In einer Frage an Scholz stellte ein türkischer Journalist die Behauptung auf, dass Israel alle zehn Minuten ein Kind in Gaza töte. „Muss Israel angeklagt werden?“, lautete die anschließende Frage, der Scholz auswich. Der Kanzler betonte erneut das Selbstverteidigungsrecht Israels. Es habe einen „furchtbaren Angriff der Hamas“ gegeben, die Terrororganisation dürfe nicht mehr in der Lage sein, einen solchen Angriff erneut auszuführen. Es könne nicht angehen, „dass weiter die Gefahr besteht, dass mit Raketen auf Israel geschossen wird.“ Gleichzeitig müsse die Zahl der zivilen Opfer reduziert werden.
Erdogan besucht Steinmeier
Bereits in der Nacht zu Freitag wurden im Regierungsviertel Absperrgitter aufgebaut, am Morgen mussten Auto- und Radfahrer wegen gesperrter Straßen vielfach Umwege in Kauf nehmen. Ein kurzfristig erhöhtes Aufgebot von 2800 Polizistinnen und Polizisten sicherte der Besuch des türkischen Präsidenten ab, der selbst noch eine große Zahl von Leibwächtern mitbrachte. Die Sorge galt vor allem den Kundgebungen, die sich gegen Erdogan richteten. „Kein roter Teppich für den Islamisten Erdogan!“, forderte beispielsweise eine Gruppe, die sich vor dem Schloss Bellevue positioniert hatte. Der Amtssitz des Bundespräsidenten war am Nachmittag die erste Besuchsstation, Erdogan wurde dort von Hausherr Frank-Walter Steinmeier empfangen.
Als Erdogan vor dem Schlossportal aus seiner schweren Limousine stieg, machten die ernsten Gesichter von Gast und Gastgeber die Brisanz dieses Besuches deutlich. Steinmeier verzichtete offenbar auf eine unnötig überschwängliche Begrüßung, nicht einmal die Andeutung eines Lächelns war zu sehen – der Bundespräsident pflegt seine Gäste ansonsten durchaus freundlicher zu empfangen. Erdogan verhielt sich kaum anders, nach dem Eintrag ins Gästebuch verschwanden beide Staatsleute in den Weiten des Schlosses.
Eine Pressekonferenz gab es im Bellevue nicht. Aus dem Bundespräsidialamt verlautete, Steinmeier habe nachdrücklich die deutsche Position im Nahost-Konflikt deutlich gemacht. „Der Bundespräsident hat die Einstufung des Überfalls der Hamas auf Israel als Terrorangriff und der Hamas als Terrororganisation unterstrichen. Er hat das Existenzrecht Israels sowie sein Recht auf Selbstverteidigung herausgehoben.“ Beide stimmten demnach darin überein, dass alle Anstrengungen auf die Befreiung der Geiseln und die Verhinderung eines Flächenbrandes gerichtet sein müssten.