Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Berlin vom deutschen Regierungschef Olaf Scholz empfangen wird, ist das Kanzleramt einer der sichersten Orte der Welt. Für den Gast aus der Ukraine gilt die höchste Sicherheitsstufe, wie sie auch für den Besuch eines US-Präsidenten angewendet werden würde. Nichts soll diesen Staatsbesuch trüben, der so wichtig ist in diesen Zeiten, in denen der russische Einmarsch in die Ukraine Europa und die Welt in Atem hält. Es geht bei diesem mehrstündigen Treffen gar nicht so sehr um weitere Waffenlieferungen oder andere strategische Überlegungen. Nachdem Deutschland bei der Unterstützung der Ukraine zunächst zögerlich agierte, soll und muss Vertrauen aufgebaut werden.
Details des Selenskyj-Besuchs werden praktisch bis zur letzten Minute geheim gehalten. Dass die Berliner Polizei bereits Tage vorher versehentlich von einem möglichen Staatsbesuch berichtet hat, ist in Kiew und bei der deutschen Regierung sauer aufgestoßen. Zu viele Unwägbarkeiten und Unsicherheiten sind mit dem Besuch eines Staatsgastes aus einem Kriegsgebiet verbunden, als dass er schon vorher in den Zeitungen stehen sollte. Selenskyj schafft es wohlbehalten aus Kiew heraus, er landet am Samstag zunächst in Italien und fliegt später in einem Airbus 319 der Luftwaffe, eskortiert von zwei Eurofightern, nach Deutschland weiter.
Höchste Sicherheit: Bei Selenskyjs Ankunft in Berlin kreisen Hubschrauber über der Stadt
Er trifft nach Mitternacht auf dem militärischen Teil des Flughafens BER, der für Staatsgäste reserviert ist und sich auf der anderen Seite des Flugfelds gegenüber den Terminals für normale Fluggäste befindet, ein. Als Selenskyj per Twitter über sein Eintreffen informiert, haben viele Berlinerinnen und Berliner das schon längst mitbekommen.
Nach Mitternacht ist in der Hauptstadt Hubschrauberlärm zu hören, die von viel Polizei begleitete Wagenkolonne wird auch aus der Luft abgesichert. Schon am Freitag hatte der schwarze Polizeihubschrauber seine Runden über Berlin gedreht. Das mit Wärmebildkameras und anderer sensibler Technik ausgestattete Fluggerät bekam am Sonntag dann Unterstützung von anderen Hubschraubern.
Wie zu solchen Anlässen üblich, dürften auch zahlreiche Satelliten auf die Hauptstadt gerichtet gewesen sein. Die Spree wurde in Höhe des Kanzleramtes von der Wasserschutzpolizei gesperrt. Die Polizei hat eine Allgemeinverfügung erlassen, die sie zu spontanen Sperrungen und Taschenkontrollen berechtigt. Auf den Dächern sind Scharfschützen postiert.
Selenskyj trifft in Berlin zunächst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Am Sonntagmorgen ist das Schloss Bellevue Selenskyjs erste Besuchsstation. Er wird bei mildem Wetter von Frank-Walter Steinmeier empfangen. Der ukrainische Präsident trägt wie so oft eine olivfarbene Militärhose und dazu einen schwarzen Pullover. Auf der Brust ist das Logo „United24“ zu sehen, dahinter verbirgt sich Selenskyjs Spendenkampagne für sein Land.
Die Atmosphäre ist nicht frostig, aber unterkühlt. „Gemeinsam werden wir gewinnen und den Frieden nach Europa zurückbringen“, schreibt Selenskyj ins Gästebuch. Das Wort „gemeinsam“ hat für ihn einige Bedeutung, denn nach Kriegsausbruch im Februar 2022 fühlten sich die Ukrainer von Deutschland im Stich gelassen. Erst im dritten Anlauf wurde Steinmeier Ende Oktober in Kiew empfangen. Zuvor war ihm signalisiert worden, dass er nicht willkommen sei. Der Grund: die aus ukrainischer Sicht russlandfreundliche Politik des ehemaligen Außenministers von der SPD.
Es sind nur ein paar hundert Meter vom Schloss Bellevue zum Hof des Kanzleramtes, wo Selenskyj von Scholz auf dem roten Teppich mit militärischen Ehren empfangen wird. Nach dem Abspielen der Nationalhymnen ziehen sich die Politiker zum Vier-Augen-Gespräch zurück. In der anschließenden Pressekonferenz lesen die beiden Politiker zunächst vorbereitete Erklärungen vom Blatt ab. „Seit 444 Tagen stellen sich die Ukrainer diesem Krieg entgegen“, sagt der Kanzler und verspricht dem gebeutelten Land weitere Unterstützung. „Diese Solidarität, sie ist anhaltend und sie ist stark“, sagt der SPD-Politiker.
Deutschland zählt inzwischen zu den wichtigsten Unterstützern der Ukraine
Im ersten Kriegsjahr lief Deutschland der Entwicklung hinterher. Scholz verkündete zwar eine „Zeitenwende“, die Ukrainerinnen und Ukrainer bekamen davon indes zunächst nichts mit. Spät erst lieferte Deutschland Militärgüter, noch später erst schwere Waffen. Inzwischen gehört Berlin zu den wichtigsten Unterstützern. Dutzende ukrainische Soldaten wurden hierzulande ausgebildet. Bis zum 24. April erteilte die Regierung Genehmigungen für die Ausfuhr von Rüstungsgütern im Wert von rund 2,75 Milliarden Euro, darunter Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 A6. Pünktlich zum Selenskyj-Besuch verspricht Deutschland weitere Waffen im Wert von rund 2,7 Milliarden Euro, dabei sind Panzer, Aufklärungsdrohnen und Flugabwehrsysteme. Die Liste hat Symbolkraft, viele der Waffen müssen erst noch produziert werden. Wann sie in der Ukraine eintreffen, ist offen.
Selenskyj lobt, Deutschland sei jetzt nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant. Wenn das stimmt, hat Berlin London den Rang abgelaufen. Doch der Ukrainer will mehr. „Wir arbeiten jetzt daran, eine Kampfjet-Koalition zu schaffen“, sagt er. „Ich denke, ich werde mich auch da an die deutsche Seite wenden, uns hier zu unterstützen.“ Selenskyj will, bevor er am frühen Nachmittag mit Scholz zur Verleihung des Karlspreises nach Aachen fliegt, das Thema bei einer Sitzung mit dem Sicherheitskabinett ansprechen – ein informeller Kreis der Regierung, dem neben Scholz ausgewählte Kabinettsmitglieder wie Außenministerin Annalena Baerbock und Verteidigungsminister Boris Pistorius angehören. Doch vorerst wird Kiew wohl nicht mit deutschen Kampfjets rechnen können, wie Scholz andeutet. Einer direkten Antwort weicht der Kanzler aus, er verweist auf die gelieferten Luftabwehrwaffen und betont: „Das ist das, worauf wir uns als Deutsche jetzt konzentrieren.“
Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj hofft den Krieg noch dieses Jahr zu beenden
Selenskyj erklärt auf Nachfrage, dass er russisches Territorium nicht angreifen will, und äußert die Hoffnung, dass der Krieg in diesem Jahr beendet werden kann. Offizielle Friedensverhandlungen gibt es nicht, hier diktiert Kiew die Bedingungen, was die Vermittlung für andere Länder erschwert. Beim G20-Gipfel in Indonesien hatte Selenskyj im November einen Zehn-Punkte-Plan mit Bedingungen vorgelegt, an dem er weiter festhält, wie er in Berlin betont. Scholz bekräftigt, dass es keinen Diktatfrieden geben könne mit Bedingungen, die Russland formuliere. „Russland muss seine Truppen zurückziehen. Ohne das wird es nicht gehen“, sagt der Kanzler.
Bis dahin gilt das deutsche Versprechen: „Wir unterstützen euch so lange, wie es nötig sein wird“, sagt Scholz. Der neben ihm stehende Selenskyj weiß das zu schätzen. Er bedankt sich mehrfach bei der Politik, richtet diesen Dank auch an alle deutschen Familien, die Kommunen und die Bundesländer. „Danke für jede Mutter, für jedes Kind, das Sie gerettet haben. Ruhm der Ukraine.“