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Ukraine-Reportage: Unterwegs in Kiew und Moskau: Das sagen die Menschen zum Krieg

Ukraine-Reportage

Unterwegs in Kiew und Moskau: Das sagen die Menschen zum Krieg

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    Eine Frau sitzt auf ihrem Gepäck, während sie am Bahnhof darauf wartet die Stadt verlassen zu können. Russische Truppen haben ihren erwarteten Angriff auf die Ukraine gestartet.
    Eine Frau sitzt auf ihrem Gepäck, während sie am Bahnhof darauf wartet die Stadt verlassen zu können. Russische Truppen haben ihren erwarteten Angriff auf die Ukraine gestartet. Foto: Emilio Morenatti, dpa

    Der Maidan ist leer, als der Angriff beginnt. Die weltberühmte Stele in der Mitte des Platzes ragt in den Nachthimmel über Kiew. Aus nicht allzu weiter Ferne ist ein Grollen zu hören. Immer wieder erhellt orangefarbenes Licht von Explosionen die Dunkelheit. Es stammt von den russischen Marschkörpern, die in der Nacht zum Donnerstag mehrere Orte in der Ukraine treffen. Von den Fenstern ihrer Wohnungen aus filmen Menschen in

    Der geschichtsträchtige Maidan vor dem Krieg
    Der geschichtsträchtige Maidan vor dem Krieg Foto: Roman Pilipey, dpa

    Noch in der Nacht versuchen die Ersten zu fliehen – auch aus der Hauptstadt Kiew, fast 750 Kilometer von den prorussischen Separatistengebieten im Osten des Landes entfernt, um die es in dem Konflikt angeblich gehen soll. Videos zeigen lange Staus stadtauswärts.

    Der Krieg, den sich so lange keiner vorstellen konnte, jetzt hat er begonnen.

    Russlands Präsident Wladimir Putin will die ganze Ukraine

    Wladimir Putin lässt Militärbasen in allen Teilen des Landes beschießen. Seine Armee marschiert eben nicht nur in den Separatistengebieten ein, denen er Anfang der Woche in einer geradezu wahnhaften Rede wegen eines vermeintlichen Genozids an der russischsprachigen Bevölkerung Hilfe zugesichert hatte. Es geht ihm nicht darum, die prorussische Bevölkerung zu retten. Er will das ganze Land.

    Bilder zeigen auch schwer beschädigte Wohnhäuser. Verifiziert werden können die meisten dieser Aufnahmen am Donnerstag noch nicht. Schon am Morgen meldete die Ukraine die ersten 40 Toten – während in Russland das Leben einfach weitergeht, als wäre nichts gewesen.

    Paul Ronzheimer ist einer der wenigen deutschen Journalisten, die jetzt noch in der Ostukraine vor Ort sind. Dort, wo schon so lange geschossen wird, wo Tausende Menschen gestorben sind. Im Donbass stehen sich von Russland unterstützte Separatisten und ukrainische Soldaten gegenüber. Seit vielen Jahren berichtet der Bild-Reporter aus dieser Region. Auch nach der demokratischen Revolution auf dem Maidan 2014 ist er immer wieder in die Ukraine gereist. Dabei sind enge Freundschaften entstanden, etwa zum früheren Boxweltmeister und heutigen Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko.

    Journalist Paul Ronzheimer ist gerade in der Ostukraine.
    Journalist Paul Ronzheimer ist gerade in der Ostukraine. Foto: Hans Punz, dpa

    Ronzheimer hat immer wieder gewarnt, dass Putin weiter gehen wird, als die Welt sich das in ihren schlimmsten Albträumen vorzustellen vermag. Doch nun, da die Bomben fallen, da die russischen Panzer rollen, die Bodentruppen einmarschieren und immer mehr Orte unter Beschuss geraten, ist auch er fassungslos. Als er an diesem denkwürdigen Tag von seiner persönlichen Verbindung mit dem Land und dessen Menschen erzählt, kommen ihm die Tränen. Kurz zuvor waren in der Ostukraine die ersten Raketen eingeschlagen. Krieg in Europa. Der Gedanke wirkt für viele noch immer so irreal. Wir werden uns an ihn gewöhnen müssen.

    Präsident der Ukraine ruft seine Bürger an die Waffen

    Das Smartphone ist nicht nur für Reporter wie Paul Ronzheimer in diesen Stunden das wichtigste Werkzeug, die Verbindung in die Welt da draußen. Die Welt ohne Krieg. „Die Situation kann sich stündlich ändern“, sagt er noch am Abend zuvor im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Angst sei groß, dass die Internet-Versorgung bald zusammenbrechen könnte. Kaum jemand, der nicht telefoniert, der nicht herauszufinden versucht, wie die Lage in anderen Regionen des Landes ist. Alle wollen wissen, wie weit die russischen Truppen noch entfernt sind, die von mehreren Seiten vorrücken.

    Präsident Wolodymyr Selenskyj ruft seine Landsleute auf, sich zu bewaffnen. „Wir müssen die Ukraine retten, die demokratische Welt retten. Und wir werden das tun“, kündigt er an. Auch Klitschko schickt einen Appell Richtung Westen: „Wir sind im Krieg und kämpfen um unser Land, aber brauchen die Unterstützung der ganzen Welt und sofort wirklich schmerzhafte Sanktionen gegen Russland.“

    Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj.
    Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj. Foto: Efrem Lukatsky, dpa

    Anna Lenchowska nimmt den Anruf aus Deutschland an, als sie gerade vor einem Kiewer Supermarkt in der Schlange steht. In einer langen Schlange. Sie und ihr Mann Valera haben begonnen, für den Notfall zu planen, als Präsident Selenskyj seine Landsleute noch mit Aussagen zu beruhigen versuchte, eine russische Invasion sei derzeit auch nicht wahrscheinlicher als in den vergangenen acht Jahren – seit Beginn der Kämpfe im Donbass und der russischen Annexion der Halbinsel Krim 2014. Lenchowska und ihr Mann kauften schon im Januar einen Gaskocher und Kartuschen, um ohne Strom kochen zu können. Sie packten einen Notfallrucksack mit Dokumenten, falls sie fliehen müssen. Davon will die Ukrainerin im Moment aber nichts wissen. „Mein Vater ist 75. Ich kann ihn in Kiew nicht alleine lassen.“ Die Mutter ihres Mannes habe schon vorgeschlagen, dass sie in ihrem Dorf in der Zentralukraine Zuflucht suchen sollen. Ob es dort sicherer ist, bezweifelt Lenchowska. Kiew sei immer noch eine Stadt, auf die die Welt ihre Augen richtet. In unbekannten Dörfern könne dagegen alles Mögliche geschehen.

    Präsident Putin hat in seiner Erklärung zum Einmarsch im Nachbarland eine „Denazifizierung“ der Ukraine angekündigt. Lenchowska hat für die von Steven Spielberg gegründete und dem Gedenken an den Holocaust gewidmete Shoah-Foundation in Kiew gearbeitet. Sie fühlt sich und andere Landsleute, die sich für Menschenrechte, Demokratie oder die Gleichstellung von Lesben und Schwulen engagieren, gemeint, wenn die Russen von ukrainischen „Nazis“ sprechen. Nun wird sie eine Freundin zum Busbahnhof begleiten. Diese will nach Warschau und von dort nach Amerika fliegen. Der ukrainische Luftraum ist gesperrt. Lenchowska weiß nicht, ob es ein Abschied für immer wird.

    Menschen suchen Schutz in einem Keller eines Gebäudes, während die Sirenen neue Angriffe ankündigen. Russland hat am Donnerstag einen umfassenden Angriff auf die Ukraine gestartet und Städte und Stützpunkte mit Luftangriffen oder Granaten beschossen.
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    35 Bilder
    Am Donnerstag hat Russland die Ukraine angegriffen. Menschen sind auf der Flucht und verlassen die Städte. Unsere Bilder zeigen Szenen des Kriegs.

    Aliona Panarina schläft, als der Krieg beginnt. „Ich habe die erste Explosion nicht gehört, aber kurz danach klingelte mein Handy“, sagt die Frau aus Kiew. Eine Freundin war dran. Wenige Stunden später packt Panarina einen kleinen Rucksack. Hinein kommt alles, was sie und ihr Mann für die Flucht vor den Bomben benötigen. Ihr Haus verfüge über keinen Luftschutzkeller. „Wir gehen zur nächsten Metro-Station“, sagt Panarina. Dabei zittert ihre Stimme. Sie arbeitet für das ukrainische Parlament. Sobald alle Vorbereitungen getroffen sind, um sich vor einem Angriff zu schützen, werde sie arbeiten wie an einem üblichen Tag, sagt sie. Irgendwie durchhalten. „Wir denken nicht an Flucht, sondern daran, wie wir unser Land verteidigen können.“

    Sie wolle Blut spenden und alles tun, was Zivilisten im Krieg tun können, um der Armee zu helfen. Tausende Bürgerinnen und Bürger übten im Januar für die Verteidigung der Hauptstadt. Würde sie auch mit der Waffe Widerstand leisten? In einer landesweiten Umfrage vom Dezember erklärte ein Drittel, im Fall einer Invasion dazu bereit zu sein. „Es kommt darauf an, ob die Russen nach Kiew vorstoßen“, sagt Panarina. Genau danach sieht schon am ersten Tag dieses Krieges aus.

    Moskau und Kiew: Der Kontrast könnte nicht größer sein

    Ein Blick nach Moskau – und ein Kontrast, der größer nicht sein könnte. In der russischen Hauptstadt geht das Leben seinen Gang. Mütter bringen ihre Kinder in den Kindergarten, Skater drehen ihre Runden vor dem Kreml. Über der Eisfläche am Roten Platz erklingen sowjetische Schnulzen. Maxim Popow zieht an seiner Zigarette. „Das, was in der Ukraine passiert, war zu erwarten“, sagt der 19-Jährige. „Wenn schon unsere Regierung sagt, dass es etwas nicht geben wird, gibt es genau das in ein paar Tagen auf jeden Fall. War schon immer so.“ Der Krieg? „Keine Überraschung. Weit weg. Ein Schritt, der nötig ist.“ Popow, der hochgewachsene Ex-Student, erklärt auch warum: „Selenskyjs Staat neigt dem Terrorismus zu, gerichtet gegen die russischsprachige Bevölkerung in seinem Land. Die diplomatischen Kanäle sind ausgeschöpft, und wir müssen schließlich unser Land unterstützen.“ Es sind Sätze wie aus einer Putin-Rede.

    Die Ukraine sei kein Staat, hat er am Montag in seinem Wutausbruch vor laufenden Kameras wieder gesagt. Danach unterschrieb er das Dekret zur Anerkennung der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. Die Kriegserklärung an die Ukraine. „Irgendwo bewundere ich Putin auch für seine Ehrlichkeit“, sagt Popow. Nur: „Leiden müssen Menschen, die nichts damit zu tun haben. Menschen, die weit weg sind, in Sibirien oder im Fernen Osten.“ Die Ukraine erwähnt er mit keinem Wort.

    Der Rote Platz in Moskau - hier Anfang Februar - ist auch am Donnerstag belebt.
    Der Rote Platz in Moskau - hier Anfang Februar - ist auch am Donnerstag belebt. Foto: Itar-Tass, Imago Images (Archivbild)

    „Beängstigend, was da passiert, es sieht so aus, als führe die Ukraine Krieg“, findet Olga Putschkowa am Grab des Unbekannten Soldaten an der Kremlmauer und nimmt ihre kleine Tochter aus dem Kinderwagen. „Wir werden alle leiden. Auch unsere Kleine. Und warum? Weil Selenskyj angefangen hatte, diesen Brei zu kochen, die Ukrainer gegeneinander aufzubringen.“ Putins Propaganda wirkt.

    Was genau im Nachbarland passiere, wisse sie nicht, Informationen bekomme sie von Bekannten, aus dem Internet. „Wer gut und wer böse ist, verstehe ich längst nicht mehr“, gibt die 42-Jährige zu. „Aber ich“, mischt sich ihre Freundin Olga Silantjewa ein. „Amerika ist an allem schuld. Sie wollen uns kaputtmachen. Die Ukraine, ach, die hat doch eh nichts zu sagen. Wir müssen die

    Russlands unabhängige Medien stellen sich gegen Putin

    Beim Spaziergang durchs Zentrum entsteht der Eindruck, das Leben in Moskau spiele sich in einer Parallelwelt ab. „Krieg? Welcher Krieg denn?“, fragt ein Wachmann, zuckt mit den Schultern und schaut weiter einen Film auf seinem Handy. Und doch weckt die Eskalation auch hier Ängste. „Ich weiß gar nicht mehr, was wir glauben sollen. Ich bin einfach nur schockiert“, sagt eine junge Frau in

    Bei aller vermeintlichen Gleichgültigkeit angesichts des Krieges gehört zur Wahrheit auch, dass viele Russinnen und Russen alles andere als begeistert in die Schlacht ziehen. In den wenigen unabhängigen Medien ist Platz für die Fassungslosigkeit, die auch viele Menschen in Putins Reich überkommt. Der Chefredakteur des unabhängigen Online-TV-Senders Doschd kann kaum die Tränen zurückhalten. Ein Moskauer Unternehmer sagt: „Entschuldige uns, Westen! Wir sind so dumm.“ Eine Feministin schreibt: „Ich bin so wütend. Wie soll ich meinem fünfjährigen Sohn erklären, dass unser geliebtes, schönes Land seinen Nachbarn überfällt?“ Die meisten Menschen im Land hören solche Worte nicht.

    Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Ukraine-Konflikt.

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