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Ukraine: Militärexperte warnt vor langem Stellungskrieg

Krieg in der Ukraine

Militärexperte warnt: Dieser Krieg droht zum Fegefeuer zu werden

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    Ukrainische Soldaten feuern eine Haubitze auf russische Stellungen. Auch russisches Grenzgebiet gerät dabei immer wieder unter Feuer.
    Ukrainische Soldaten feuern eine Haubitze auf russische Stellungen. Auch russisches Grenzgebiet gerät dabei immer wieder unter Feuer. Foto: LIBKOS, AP/dpa

    Militärische Rückzüge sind demoralisierend. Die ukrainischen Soldaten, die nun schon seit Monaten kleine Dörfer, aber auch strategisch wichtige Punkte aufgeben müssen, dürften durch die Serie von Niederlagen im Osten ihres Landes in ihrem Selbstvertrauen getroffen sein. Und ihre russischen Gegner? Sie ziehen nach oft sehr verlustreichen Kämpfen in meist menschenleere Orte ein, die einer Ruinenlandschaft gleichen. Der nahende Winter macht die Lage noch schwieriger.

    „Wir stehen vor der nächsten Schlammperiode, die in drei, vier Wochen beginnen dürfte. Das ist auch der Grund dafür, dass die Russen jetzt mit massiven Angriffen versuchen, Geländegewinne zu erzielen“, erklärt der Oberst des österreichischen Bundesheeres Markus Reisner, dessen Analysen des Krieges in der Ukraine weltweit Beachtung finden, im Gespräch mit unserer Redaktion.

    An mehreren Punkten sind die Ukrainer in der Defensive

    Ein Hotspot der Kämpfe liegt im Raum Prokrowsk. Reisner glaubt zwar nicht, dass es den Russen gelingt, die Stadt noch vor dem Winter einzunehmen. „Das Problem für die Ukraine ist jedoch, dass Prokrowsk bereits unter Artillerie-Beschuss steht, was natürlich die Funktion der Stadt als wichtigen logistischen Versorgungsknotenpunkt wesentlich beeinträchtigt.“ Weiter im Süden würden die russischen Kräfte aktuell versuchen, bei Neveske und Ugledar je eine ukrainische Brigade einzuschließen. Im Norden, im Raum Kupjansk, gebe es ebenfalls einen erheblichen Einbruch russischer Truppen.

    Angesichts der äußerst angespannten militärischen Lage hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine diplomatische Offensive gestartet und einen „Siegesplan“ angekündigt. „Kremlchef Wladimir Putin hat so viele internationale Gesetze und Regeln gebrochen, dass er nicht von allein damit aufhören wird. Russland kann nur zum Frieden gezwungen werden, und genau das ist nötig“, sagte Selenskyj vor dem UN-Sicherheitsrat in New York. Deshalb könne dieser Krieg nicht „durch Gespräche beruhigt werden“, sondern nur durch entschlossenes Handeln.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht bei der Generaldebatte der UN-Vollversammlung in New York.
    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht bei der Generaldebatte der UN-Vollversammlung in New York. Foto: Michael Kappeler, dpa

    Markus Reisner ist von den bekannt gewordenen Eckpunkten des ukrainischen „Siegesplanes“ nicht überrascht: „Es geht Selenskyj darum, dass die Ukraine mögliche Verhandlungen nicht aus einer Position der Schwäche führen muss. Das ist völlig legitim. Es geht um weitreichende Waffen, Sicherheitsgarantien analog zum Artikel 5 der Nato sowie Finanzhilfen – militärisch, aber auch ziviler Art.“ Schließlich seien rund 80 Prozent der kritischen Infrastruktur im Land zerstört oder beschädigt. Dies lasse Schlimmstes für den kommenden Winter befürchten.

    Seit die ukrainischen Streitkräfte am 6. August eine Militäroffensive in der russischen Grenzregion Kursk begonnen haben, spielt sich der Krieg auch auf russischem Territorium ab. Der spektakuläre Vorstoß hatte die schwache russische Verteidigung völlig überrumpelt. Doch die Erwartungen Kiews wurden nur zum Teil erfüllt. Reisner: „Selenskyjs Hoffnung, dass die Russen massiv Truppen von der rund 1000 Kilometer langen Frontlinie im Donbass abziehen, hat sich nicht erfüllt. Allerdings hat sich die Situation in der Region Charkiw entspannt. Von dort sind russische Kräfte nach Kursk verlegt worden.“

    Der Vorstoß in den Raum Kursk soll Kiews Position bei zukünftigen Verhandlungen stärken

    Reisner ist davon überzeugt, dass der ukrainische Angriff Teil des Plans Selenskyjs ist, für zukünftige Verhandlungen ein Faustpfand in der Hinterhand zu haben, um die eigene Position zu verbessern. Zuletzt allerdings haben russische Truppen den Vormarsch der Ukrainer gestoppt.

    Ein Kernpunkt der Forderungen des ukrainischen Präsidenten an den Westen ist es, die Beschränkungen für den Einsatz weitreichender Waffensysteme für Ziele tief in Russland fallenzulassen. „Die ukrainischen Drohnenangriffe auf russische Munitionsdepots haben gezeigt, dass diese Strategie im Prinzip erfolgreich ist. Es sind wohl mehrere zehntausend Tonnen Munition vernichtet worden. Aber um Russland über mehrere Wochen nachhaltig treffen zu können, benötigt Kiew viel mehr weitreichende Waffen“, erklärt Reisner.

    Markus Reisner: „Europa ist strategisch nicht autonom“

    Doch der Militäranalyst ist skeptisch, dass der Westen diese Waffen in entsprechenden Größenordnungen liefert und die Beschränkungen aufhebt. Am Ende sei die Haltung der US-Regierung entscheidend – doch Washingtons Position fehle es an Klarheit. Und Europa? „Es ist ein Dilemma: Europa ist strategisch nicht autonom. Alle Blicke richten sich auf Washington.“ Auf dem Kontinent sind lediglich Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien in der Lage, weitreichende moderne Waffensysteme in relevanter Zahl zur Verfügung zu stellen. Doch die Regierungen dieser Länder agieren zögerlich. „Russland hat einfach derzeit die zuverlässigeren Verbündeten“, sagt Reisner nicht nur mit Blick auf Waffenlieferungen aus Nordkorea oder dem Iran. Es würden zudem immer mehr gepanzerte Fahrzeuge aus China im Kriegsgebiet auftauchen, während Indien den Russen Öl und Gas im großen Stil abnehme.

    Russland setzt auf einen Abnutzungskrieg

    Punkte, die aus Sicht von Reisner dafür sprechen, dass die russische Taktik derzeit Erfolg hat: „Russland versucht, der Ukraine einen Abnutzungskrieg aufzuzwingen. In den letzten Monaten haben die Angreifer ihre Möglichkeiten dazu verfeinert. Insbesondere den Angriffen mit Gleitbomben, die bis zu 3000 Kilogramm Sprengstoff enthalten, sind die Ukrainer fast schutzlos ausgeliefert.“ Putin sieht sich im Vorteil und hat zuletzt erneut klargestellt, dass sein Verständnis von Friedensverhandlungen das Ende einer souveränen Ukraine bedeuten würde.

    Wenn es die Strategie der USA sei, Waffen in einem Umfang zu liefern, der die Ukraine zwar in die Lage versetzt zu kämpfen, aber nicht zu siegen, dann werde dieser Krieg zum Fegefeuer, warnt Reisner, der nicht mit einer schnellen Entscheidung zugunsten einer Seite rechnet. „Übertragen auf den Ersten Weltkrieg sind wir jetzt im Jahr 1916. Dem Jahr der elenden Offensiven, bei denen Hunderttausende um jeden Meter kämpften und starben. Gleichzeitig wurden aber die ersten Fühler in Richtung einer möglichen Friedenslösung ausgestreckt. Doch der Krieg hat dann noch einmal zwei Jahre bis 1918 gedauert.“

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    2 Kommentare
    Jochen Hoeflein

    Kernpunkt ist doch, dass am Ende allein die USA entscheiden über Sieg oder Niederlage der Ukraine. Es wird nur so viel an Nachschub geliefert, dass der UA Widerstand nicht zusammenbricht. Für die Verbesserung der Verhandlungsposition der UA bedürfte es größter Anstrengungen. Alle westl weitreichenden Waffensysyteme (Flugkörper) sind mit US Komponenten ausgestattet, die eine präzise Steuerung ermöglichen. Und deren Freigabe für Ziele im RU Kernland obliegt allein den USA. Dabei agieren die USA als Weltmacht nach dem Prinzip "Divide et impera"- Teile und herrsche.

    Jochen Hoeflein

    Ergänzung. Meine Sicht der Lage wurde durch das Ergebnis des Besuchs des UA Präsidenten in den USA bestätigt. Der Fleischwolf dreht sich weiter und ein Licht am Ende des Tunnels ist nicht erkennbar. Leider bestätigen sich die düsteren Aussichten aus dem Artikel. Und Europa darf die negativen Folgen des Konflikts "ausbaden".

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