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Ukraine-Krise: Was steckt hinter Putins "Genozid"-Vorwürfen im Russland-Konflikt?

Ukraine-Krise

Was steckt hinter Putins "Genozid"-Vorwürfen im Russland-Konflikt?

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    Bedenklicher Disput: Russlands Präsident Wladimir Putin beim Presseauftritt mit Kanzler Olaf Scholz.
    Bedenklicher Disput: Russlands Präsident Wladimir Putin beim Presseauftritt mit Kanzler Olaf Scholz. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Diese Szene zwischen Wladimir Putin und Olaf Scholz wird in Erinnerung bleiben. Im Schlagabtausch über Krieg und Frieden in der Ukraine verweist der russische Präsident am Dienstag auf die Nato-Luftangriffe in Serbien 1999. Dort habe der Westen „echten Krieg geführt, mit Bomben auf Belgrad“. Der Kanzler kontert: „Es musste ein Völkermord verhindert werden.“ Das wiederum will Putin so nicht stehen lassen: „Was derzeit im Donbass passiert, das ist ein Genozid.“ Was ist dran an dieser Behauptung?

    Die Frage ist von Bedeutung. Denn nicht nur in der Logik des Putin-Scholz-Disputs gilt ein Genozid als legitimierter Grund für ein militärisches Eingreifen. In der einschlägigen UN-Konvention von 1951 haben sich die Mitgliedstaaten zur „Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ verpflichtet. Darin ist ein Genozid definiert als „Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“.

    Seit 2014 herrscht Krieg im Donbass

    Im Donbass geht es nach Moskauer Lesart um russischstämmige oder russischsprachige Menschen, die nach ethnisch-kultureller und politischer Autonomie streben. Die ukrainische Regierung unterdrücke diese Gruppe und drohe mit ihrer Vernichtung. Schon der Beginn des Krieges in den Regionen Donezk und Luhansk 2014 war aus Kreml-Sicht eine Folge legitimen Widerstands gegen ein „faschistisches Regime“ in Kiew.

    Einem Faktencheck hält das nicht stand. Eine von breiten Bevölkerungsschichten getragene Autonomiebewegung gab es 2014 in der Ostukraine nicht. Vielmehr nutzten separatistische Gruppen die Schwäche der Kiewer Übergangsregierung, die sich nach den Maidan-Unruhen gebildet hatte, zu einer Machtübernahme. Die Führungsfiguren waren meist Russen mit Verbindungen zum Moskauer Militärgeheimdienst GRU. Sie inszenierten ein Referendum und schufen die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, die keine Anerkennung fanden.

    Bei Kämpfen in Ostukraine starben bereits 14.000 Menschen

    Die ukrainische Armee begann daraufhin Ende Mai 2014 eine sogenannte Anti-Terror-Operation. Die Luftangriffe und die Bodenoffensive mündeten in den Donbass-Krieg. Die Separatisten konnten mit russischer Militärhilfe ihre Gebiete halten und teilweise ausbauen. Das Abkommen von Minsk vom Februar 2015 schuf eine „Kontaktlinie“, die in Wirklichkeit eine Front ist. Denn die vereinbarte und vielfach erneuerte Waffenruhe wird von beiden Seiten immer wieder gebrochen. De facto herrscht in der Region bis heute ein Krieg. Bis heute zählt er 14.000 Todesopfer, darunter tausende Zivilisten.

    Diese – sehr grob skizzierte – Geschichte muss man kennen, um die Frage nach einem Genozid zu beantworten. Denn vor allem eines erscheint völlig unklar: Wie könnte die ukrainische Armee einen Völkermord in den Gebieten Donezk und Luhansk verüben, in denen seit acht Jahren kremltreue Separatisten die Kontrolle ausüben? Noch dazu abgesichert vom russischen Militär.

    Putin ließ bei dem Disput mit Scholz offen, was genau er mit „Genozid“ meint. Einen Anhaltspunkt liefert aber ein Auftritt des Anführers der „Donezker Volksrepublik“ (DVR), Denis Puschilin, am vergangenen Freitag. Puschilin nannte Zahlen: „Seit 2014 wurden auf dem Gebiet der DVR 130 Massengräber mit Opfern der ukrainischen Aggression entdeckt.“ Großteils handele es sich um Zivilisten, darunter Alte, Frauen und Kinder. „Die meisten starben an Schusswunden, durch Minen oder Schädel-Hirn-Traumata nach Schlägen.“ Insgesamt seien in der DVR seit 2014 rund 5000 Menschen einen gewaltsamen Tod gestorben. Überprüfbare Belege lieferte er nicht. Dennoch müssen die Angaben nicht falsch sein. Die Statistik der OSZE-Beobachtermission zeigt, dass im Donbass-Krieg mehr Zivilisten auf der separatistisch kontrollierten Seite sterben als auf der Regierungsseite.

    Menschenrechtler sprechen von Kriegsverbrechen

    Fachleute erklären das mit der Wahl der Waffen. Während die Separatisten meist Scharfschützen zum Einsatz bringen, die gezielt feindliche Soldaten eliminieren, sterben durch das Artilleriefeuer der ukrainischen Armee häufiger Zivilisten. Dies zählt zur Tragödie eines Krieges.

    Amnesty International spricht von Kriegsverbrechen und wirft vor allem den Separatisten „willkürlichen Beschuss, Entführungen, Folter und gezielte Tötungen“ vor. Die Menschenrechtsorganisation hat aber auch Fälle von Entführungen und gewaltsamen Übergriffen durch ukrainische Paramilitärs dokumentiert. Die Definition eines Genozids erfüllt das aber nicht. Für einen Völkermord im Donbass haben weder die OSZE noch die Vereinten Nationen Hinweise.

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