Dass sich die Entwicklungen in Brüssel derzeit überschlagen, darf gut und gerne als Untertreibung durchgehen. Angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine verabschiedet sich die EU fast täglich von einem Grundsatz nach dem anderen.
Beispiellose und schwerwiegende Sanktionen gegen Russland: Nun auch gegen Oligarchen aus dem Umfeld von Russlands Präsident Putin, deren Vermögenswerte in der EU eingefroren werden. Dazu die Finanzierung von Waffenlieferungen für die Ukraine, unbürokratische Lösungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen – die Kurswechsel berühren fast jeden Bereich und jedes vermeintliche Tabu des Blocks.
Von der Leyen zu Ukrainern in der EU: "Wir wollen sie drin haben"
Nun ist zudem eine Debatte um eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU entfacht, angefeuert von Ursula von der Leyen höchstpersönlich. So hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach eigenen Angaben bei einem Telefonat mit der Kommissionschefin abermals seinen Wunsch geäußert – und dieser stieß bei der Deutschen auf offene Ohren.
„Im Laufe der Zeit gehören sie tatsächlich zu uns. Sie sind einer von uns und wir wollen sie drin haben“, antwortete von der Leyen auf eine entsprechende Journalistenfrage am Sonntagabend. Gestern bekräftigte Selenskyj in einer Videoansprache seine Forderung. „Wir bitten die EU um eine unverzügliche Aufnahme der Ukraine im Rahmen eines neuen Sonderverfahrens.“ Er sei überzeugt davon, „dass wir das verdient haben“.
Die Ukraine arbeitet schon länger auf einen Beitritt zur Staatengemeinschaft hin. Seit 2019 ist das Ziel – wie auch jenes der Nato-Mitgliedschaft – in der Verfassung verankert. In Brüssel war man gestern bemüht, die Hoffnungen etwas zu bremsen und auf die feste Prozedur hinzuweisen, die es für Beitrittsverhandlungen gibt, um EU-Mitglied zu werden, wie ein Sprecher der Kommission betonte. Das klang deutlich verhaltener als die Worte seiner Chefin. Ohnehin liege die Entscheidung nicht bei der Brüsseler Behörde, sondern bei den 27 Mitgliedstaaten, fügte er hinzu.
Laut UNHC mehr als eine halbe Million Menschen auf der Flucht
Und während Länder wie Polen oder Tschechien das Anliegen aus Kiew unterstützen, versuchten gestern einige Regierungsvertreter in anderen Hauptstädten, die Erwartungen eines schnellen Beitritts zu dämpfen. Dies sei keine Entwicklung, die sich in einigen Monaten vollziehen könne, so die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Die Grünen-Politikerin betonte vielmehr die Anstrengungen von Seiten der EU bei der massiven Fluchtbewegung in die EU und ihre Nachbarländer, die mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine begonnen hat.
Mehr als eine halbe Million Menschen sollen laut UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) in Folge der russischen Invasion bereits aus der Ukraine geflüchtet sein. Die EU erwartet die größte humanitäre Krise in Europa seit vielen Jahren. Man rechne mit über sieben Millionen Vertriebenen in der Ukraine, so Janez Lenarcic, EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenmanagement, am Sonntag. Die Gemeinschaft will deshalb die sogenannte „Massenzustrom“-Richtlinie aktivieren, die in Folge der Kriege in den 1990er Jahren im ehemaligen Jugoslawien erarbeitet wurde und Kriegsflüchtlingen ohne ein aufwendiges Asylverfahren Schutz in der EU verspricht.
Die bislang noch nie zum Einsatz gekommene Bestimmung besagt unter anderem, dass in allen 27 Mitgliedstaaten dasselbe Prozedere gilt, dass die Länder den Flüchtenden gewisse Mindeststandards garantieren müssen wie etwa eine Arbeitserlaubnis oder den Zugang zu medizinischer Versorgung und Hilfesuchende bis zu drei Jahre Schutz gewährt bekommen.
Erstmals in ihrer Geschichte finanziert die EU Waffen
Dass alle EU-Staaten zur Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen bereit seien, nannte Innenministerin Nancy Faeser „eine starke Antwort Europas auf das furchtbare Leid, das Putin mit seinem verbrecherischen Angriffskrieg verursacht". Insbesondere in Ländern wie Polen und Ungarn, wo sich die Regierungen in der Vergangenheit vehement gewehrt hatten, Flüchtlinge etwa aus Syrien im Rahmen einer EU-Verabredung aufzunehmen, herrscht nun eine Welle der Hilfsbereitschaft. Baerbock dankte den osteuropäischen Ländern gestern und versprach: Die EU werde „alle aufnehmen“. Doch nicht nur der solidarische Umgang mit den Flüchtigen wird als Novum in der EU gepriesen.
Erstmals in der Geschichte der Union wird die Staatengemeinschaft Waffen finanzieren, womit „ein weiteres Tabu“ gefallen sei, wie der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte – „ein historischer Augenblick“. Die EU will dafür 450 Millionen Euro aufwenden, zusätzlich sollen 50 Millionen Euro für Ausrüstung bereitgestellt werden. Das Geld wird den Planungen zufolge aus der sogenannten Europäischen Friedensfazilität kommen. Es handelt sich um ein Finanzierungsinstrument der EU, das auch genutzt werden kann, um die Fähigkeiten von Streitkräften in Partnerländern zu stärken. Von der Leyen sprach von einer „Wegscheide“.
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