Alle sieben Tage testet dieNew York Times mit einem Quiz das aktuelle Nachrichtenwissen ihrer Leser. Über welchen Regierungschef Präsident Joe Biden sage, dass er die USA und die Nato „so hart wie möglich“ auf die Probe stelle, wollte die Zeitung am Wochenende wissen. Unter den möglichen Antworten fand sich neben den Präsidenten des Irans, Russlands und Chinas ein überraschender Name: Bundeskanzler Olaf Scholz.
Auch wenn es sich bei dem Polit-Rätsel um einen sarkastischen Scherz handeln dürfte, drückt die Verortung des Kanzlers in einer Reihe mit den mächtigsten Demokratiefeinden der Welt überspitzt ein wachsendes Befremden in Washington über die Sonderrolle Deutschlands in der Ukraine-Krise aus. Das Zögern Berlins in der Sanktionsfrage, die Verweigerung von direkten Waffenlieferungen an die Ukraine und die mögliche Blockade selbst indirekter Militärhilfe durch Estland werden in der amerikanischen Hauptstadt genau registriert. Die Russland-freundlichen Äußerungen des inzwischen zurückgetretenen Marine-Inspekteurs Kay-Achim Schönbach scheinen in das Bild zu passen. „Is Germany a Reliable American Ally?“, stellte das konservative Wall Street Journal am Montag die deutsche Bündnistreue mit einer fünfspaltigen Überschrift infrage – ist Deutschland ein verlässlicher Partner? Die Antwort gab die Redaktion auf Deutsch: „Nein!“
Die Kritik an Deutschland wird immer lauter
Als US-Außenminister Antony Blinken am Sonntag bei „Meet the Press“, dem wohl bekanntesten amerikanischen TV-Polit-Magazin beim liberalen Sender NBC, zu Gast war, kam Moderator Chuck Todd schnell auf den „Problembär“ der westlichen Allianz zu sprechen. „Deutschland ist der Stolperstein für eine gemeinsame harte Antwort an Putin“, sagte der Journalist. Der oberste Diplomat der USA zögerte kurz, bevor er widersprach: „Das ist nicht meine Einschätzung.“ Deutschland teile die amerikanischen Sorgen und die Entschlossenheit für eine robuste Reaktion im Falle einer russischen Invasion in der Ukraine, sagte Blinken: „Daran habe ich keinen Zweifel.“
Das ist die offizielle Linie. Doch sie verdeckt kaum die Differenzen zwischen Washington und Berlin bei Waffenlieferungen und Sanktionen. Unfreiwillig hatte Präsident Biden diese öffentlich gemacht, als er auf seiner Pressekonferenz in der vorigen Woche Diskussionsbedarf der Verbündeten bei einem „geringfügigen Eindringen“ Russlands in die Ukraine einräumte. Dass Kanzler Scholz die umstrittene Ostseepipeline Nord Stream 2 vor Weihnachten zum „privatwirtschaftlichen Vorhaben“ erklärte, ist parteiübergreifend in Washington mit Befremden aufgenommen worden.
Doch auch die deutsche Ablehnung von Waffenhilfe für die Ukraine stößt bei Demokraten wie Republikanern auf Kritik. Am Abend gab das Weiße Haus bekannt, dass Scholz im Februar zum Antrittsbesuch nach Washington kommen soll. Schon am späten Montagabend wollten sich die USA auf höchster Ebene mit Deutschland und den anderen europäischen Verbündeten über das weitere Vorgehen im Ukraine-Konflikt abstimmen. An der Videoschalte sollte neben US-Präsident Joe Biden auch Scholz teilnehmen. Der Kanzler schloss zuvor nicht aus, dass Deutschland die Ukraine im Rahmen der Europäischen Union zumindest bei der Militärausbildung unterstützt. „Die einzige Sache, die wir immer klar gesagt haben, so wie auch die frühere Bundesregierung, ist: Wir liefern keine letalen Waffen“, sagte der SPD-Politiker.
Dient Deutschlands Vergangenheit als Ausrede?
„Jemand muss mir die Ethik hinter der Verweigerung von Militärhilfe für die Ukraine zum derzeitigen Zeitpunkt erklären“, twitterte der Stanford-Professor Michael McFaul, einer der führenden amerikanischen Russland-Experten und frühere Russland-Botschafter unter Ex-Präsident Barack Obama: „Ich verstehe ehrlich nicht die moralische Position einiger Verbündeter.“ Der Russland-Hardliner Paul Massaro von der Helsinki-Menschenrechtskommission des Kongresses formuliert schärfer: „Deutschlands Kriegsschuld wird immer vorgebracht, wenn man aus anderen Gründen nichts unternehmen will.“ Für Deutschland seien „günstiges Gas, Auto-Exporte nach China und die Beruhigung von Herrn Putin wichtiger als gemeinsame demokratische Solidarität“, moniert auch der konservative Publizist Tom Rogan in seinem eingangs zitierten Gastbeitrag für das Wall Street Journal.
Bei dem Besuch einer Gruppe demokratischer und republikanischer US-Senatoren in der Ukraine in der vergangenen Woche ging es nicht zuletzt um Nord Stream-Sanktionen. Der moderate republikanische Senator Rob Portman forderte Deutschland in Kiew auf, die Pipeline aufzugeben. Zwar hat Präsident Biden einen Senatsbeschluss, der sofortige Sanktionen gegen das Projekt verhängt hätte, mit dem Hinweis auf ein drohendes deutsch-amerikanisches Zerwürfnis gerade noch verhindert. Doch der demokratische Senator Bob Menendez arbeitet derzeit mit Hochdruck an einem neuen Beschluss, der harte Sanktionen gegen die Pipeline, russische Politiker und das Bankensystems Russlands für den Fall einer Invasion vorsieht.
Europäische Außenminister wollen Sanktionen vorbereiten
In Berlin scheint die Botschaft anzukommen. Annalena Baerbock schaffte es, allein in den ersten Sätzen fünf Mal das Wort „gemeinsam“ unterzubringen, als sie am Montag kurz nach ihrer Ankunft in Brüssel die Presse auf den Tag einstimmte. Die Botschaft, die von dem EU-Außenminister-Treffen ausgehen sollte, war klar: Die europäischen Partner wollten angesichts des Konflikts mit Russland Einigkeit demonstrieren. Man setze weiterhin auf Diplomatie, betonte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell dann am Abend. Doch sollte diese scheitern, „sind wir bei der Vorbereitung unserer Antwort auf eine mögliche Aggression Russlands sehr weit fortgeschritten“, warnte der Spanier. Man werde „schnell und entschlossen“ handeln. Insbesondere auf Druck der osteuropäischen Länder hin koordinierten die Minister schärfere Sanktionen gegen Wirtschaftssektoren und Personen. Wen die Maßnahmen konkret treffen könnten, wurde nicht bekannt. Es gehöre zur Strategie, so hieß es aus Diplomatenkreisen, Moskau im Unklaren darüber zu lassen, womit es genau zu rechnen habe.
Die Grenzen der Eintracht waren erreicht bei der Frage, wie weit die Maßnahmen gehen sollen. Offenbar nicht so weit, dass man mit den Sanktionen auch Europa und damit sich selbst trifft, was etwa passieren würde, würde man Russland vom internationalen Zahlungssystem Swift ausschließen. Insbesondere die Bundesrepublik würde das schmerzen. Grünen-Politikerin Baerbock versuchte den Spagat und meinte, am Ende sei „der härteste Knüppel nicht immer das intelligenteste Schwert“. Man müsse Finanzmaßnahmen so überprüfen, „dass sie die größte Wirkung entfalten“. Insgesamt gehe es ihr darum, „alle Maßnahmen zu ergreifen, dass wir deeskalieren, dass wir den Dialog fortsetzen können“. Ihr litauischer Amtskollege Gabrielius Landsbergis zeigte sich wenig optimistisch. „Wir sind davon überzeugt, dass ein echter Krieg von hoher Wahrscheinlichkeit ist.“
In der gemeinsam verabschiedeten Erklärung drohten die EU-Minister erneut mit Vergeltung, sollte der Kreml seine Truppen ins Nachbarland einmarschieren lassen. Jede weitere militärische Aggression gegen die Ukraine werde „massive Konsequenzen und hohe Kosten“ nach sich ziehen.
Die Nato stockt ihre Truppen in Osteuropa auf
Die Nato bestätigte unterdessen Überlegungen der USA zu einer Truppenaufstockung in Bündnisstaaten in Osteuropa. Zudem schicken mehrere Mitgliedstaaten Schiffe und Militärflugzeuge in Richtung Osten. So entsendet Dänemark den Angaben zufolge eine Fregatte in die Ostsee und vier F-16-Kampfflugzeuge nach Litauen. Spanien stellt Schiffe für die Nato-Seestreitkräfte bereit und erwägt die Entsendung von Kampfjets nach Bulgarien. Frankreich habe sich bereit erklärt, Truppen unter Nato-Führung nach Rumänien zu entsenden. Die Niederlande schickten zudem ab April zwei F-35-Kampfflugzeuge nach Bulgarien und versetzten ein Schiff und landgestützte Einheiten für die Nato-Eingreiftruppe NRF in Bereitschaft.
Einem Bericht der New York Times zufolge erwägt auch US-Präsident Biden, Kriegsschiffe und Flugzeuge zu Nato-Verbündeten im Baltikum und in Osteuropa zu verlegen sowie mehrere tausend US-Soldaten zu entsenden. Zu den Optionen gehöre die Entsendung von 1000 bis 5000 Soldaten in osteuropäische Länder, mit der Möglichkeit, diese Zahl zu verzehnfachen, wenn sich die Lage verschlechtere, hieß es in dem Bericht. Eine Entscheidung werde noch diese Woche erwartet.