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Krieg in der Ukraine: Wie sich Russland verspekuliert hat: Protokoll eines Desasters

Krieg in der Ukraine

Wie sich Russland verspekuliert hat: Protokoll eines Desasters

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    In den vom Verteidigungsministerium der Ukraine zur Verfügung gestellten Drohnenaufnahmen sind zerstörte Fahrzeuge und Panzertechnik am Fluss Siwerskyj Donez zu sehen.
    In den vom Verteidigungsministerium der Ukraine zur Verfügung gestellten Drohnenaufnahmen sind zerstörte Fahrzeuge und Panzertechnik am Fluss Siwerskyj Donez zu sehen. Foto: Verteidigungsministerium der Ukraine, dpa

    Russland erinnert an einen Raubvogel, der zum ersten Mal versucht, einen Krebs zu knacken. Bisher hält der Panzer. Mehr noch, die Krabbe schlägt zurück und setzt ihre kräftigen Scheren gegen den Angreifer ein. Leider ist das, was sich in der Ukraine abspielt, keine Tierfabel, sondern ein verbrecherischer und völlig sinnloser russischer Angriffskrieg, der bereits viele tausende Soldaten und Zivilisten das Leben gekostet hat.

    Eine Recherche des russischen Investigativportals Waschnyje Istorii („Wichtige Geschichten“) zeigt, wie blauäugig der Kreml den Einmarsch in die Ukraine plante. Die Vorgabe war, Kiew in fünf und Mariupol in nur drei Tagen einzunehmen, wie die FAZ aus der ihr vorliegenden Analyse zitiert. Roman Anin, Journalist und Mitarbeiter der Plattform, die nach Repressionen der Staatsmacht von Lettland aus arbeitet, fasst es prägnant zusammen: Der russische Präsident Wladimir Putin, der den Angriff für den 24. Februar befohlen hat, sei der „am wenigsten informierte Mensch, der eine solche Entscheidung treffen konnte“. Bekannt ist, dass sich der Kremlchef – insbesondere seit der Corona-Pandemie – in einer selbst gewählten weitgehenden Isolation befindet, nur noch wenige Vertraute konsultiert und von Geheimdiensten beraten wurde, die ganz offensichtlich komplett versagt haben. Anders ist das Desaster beim Vormarsch auf die Hauptstadt nicht zu erklären.

    Die Konvois bewegten sich fast ungeschützt in Richtung Kiew

    Es heißt ja, dass vielen jungen Soldaten vor dem Überfall gesagt wurde, man sei auf dem Weg in ein Manöver. Tatsächlich bewegten sich die kilometerlangen Konvois aus Militärfahrzeugen völlig sorglos in Richtung der ukrainischen Hauptstadt – sie waren weitgehend ungeschützt auf den Hauptverkehrsadern unterwegs. Panzer und Raketenwerfer waren eine leichte Beute für die ortskundigen und hoch motivierten ukrainischen Soldaten, die ihre Ziele mit einfachen geschulterten Waffen reihenweise vernichteten. War ein Panzer getroffen, brach Panik im Pulk aus. Fahrzeuge, die sich bei Wendemanövern verkeilten, waren nun erst recht den mobilen kleinen Einheiten der Ukraine ausgeliefert. Das Desaster komplett machte der Umstand, dass es zunächst kaum eine Koordination unter den aus verschiedenen Richtungen vorstoßenden russischen Einheiten gab. Die Kommunikation, die später anlief, wurde meist unverschlüsselt per Mobiltelefon abgewickelt – so konnte der Feind bequem mithören. Mit jedem Tag wichtiger für die militärische Schlagkraft der Truppen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurden Waffenlieferungen und wohl auch detaillierte Geheimdienstinformationen aus dem Westen.

    Wolodymyr Selenskyj organisiert seit fast drei Monaten den Widerstand gegen die ukrainischen Angreifer - militärisch, politisch und nicht zuletzt medial.
    Wolodymyr Selenskyj organisiert seit fast drei Monaten den Widerstand gegen die ukrainischen Angreifer - militärisch, politisch und nicht zuletzt medial. Foto: dpa

    Der schmachvolle russische Rückzug kostete viele hohe Militärs und Geheimdienstler nicht nur die Karriere, Putin ließ einige von ihnen gar verhaften. Schockiert nahm die weltweite Öffentlichkeit wahr, dass russische Soldaten vor ihrem Abzug mordeten und vergewaltigten. Und zwar systematisch, wie erste unabhängige Ermittlungen zeigten.

    „Sie haben es nicht geschafft, Kiew einzunehmen. Sie ziehen sich aus der Gegend von Charkiw zurück. Ihre große Offensive im Donbass ist festgefahren“, so fasst der Generalsekretär der Nato, Jens Stoltenberg, die aktuelle militärische Situation kurz und treffend zusammen. Bezeichnend für den Stand des Krieges aus russischer Sicht ist, dass die sich nun abzeichnende vollständige Einnahme von Mariupol – nicht nach drei Tagen, sondern nach fast drei Monaten – in Moskau zu einem strahlenden Erfolg hochgejazzt wird. Die Bilder von den bis gestern nach russischen Angaben rund 1000 meist verwundeten Kämpfern, die die Katakomben des Asow-Stahlwerks verließen, um sich den Angreifern zu ergeben, mögen für die Ukraine schwer zu ertragen sein. Militärisch ändert sich nicht allzu viel.

    Denn die letzten Tage hielten erneut harte Rückschläge für Moskau bereit. Einmal die Aufgabe des Ziels, die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw zu erobern, dann die spektakulären Fehlschläge, die in der medialen Welt nicht verborgen bleiben. So wie der in einem totalen Chaos gipfelnde zweifache Versuch, den Fluss Siwerskyj Donez im Donbass zu überqueren, um sich die Möglichkeit zu erhalten, die Verteidiger einzukesseln. Das erste Übersetzmanöver vereitelten ukrainische Kampfjets, der zweite Anlauf endete im Dauerfeuer ukrainischer Geschütze. Je nach Quelle verloren bei den nach Ansicht von Experten frappierend dilettantischen Aktionen bis zu 400 russische Soldaten ihr Leben. Bilder und Videos zeigen zahlreiche zerstörte Militärfahrzeuge und Panzer.

    Offensichtlich konzentriert sich Russland im Krieg gegen die Ukraine auf Luhansk und Donezk

    Wie geht es weiter? Sind Friedensverhandlungen endlich eine Option? Offenbar konzentriert sich Moskau nun auf die komplette Einnahme der beiden ostukrainischen Bezirke Luhansk und Donezk. Dabei kommt Russland an einigen Stellen voran, wenn auch langsam, wie der gewöhnlich bestens informierte britische Militärgeheimdienst meldet. An der Front stehen auch ostukrainische Separatisten – ortskundig und besser motiviert als ihre russischen Mitstreiter. Doch auch im Donbass setzen die selbstbewussten Ukrainer immer wieder Nadelstiche gegen die Invasoren. Unklar ist, ob Russland mit Nachdruck versuchen wird, die Hafenstadt Odessa einzunehmen, um Kiew vollständig vom Zugang zum Meer abzuschneiden. Die weltweit vielstimmig geforderten

    Der russische Präsident Wladimir Putin stellt sich vermeintlich den Fragen der russischen Bürger.
    Der russische Präsident Wladimir Putin stellt sich vermeintlich den Fragen der russischen Bürger. Foto: Mikhail Klimentyev, Pool Sputnik Kremli, AP, dpa

    Nicht nur in Deutschland wird darüber debattiert, ob es sinnvoll oder möglich ist, Putin etwas anzubieten, um sich aus der verfahrenen Situation zu befreien und den Weg zu Friedensverhandlungen zu ebnen. Abgesehen davon, dass darüber, welche Zugeständnisse an die kriminellen Angreifer im Einzelnen denkbar sind, zuerst mit der Ukraine gesprochen werden muss: Für eine international gesichtswahrende Lösung für Putin ist es nach den Gräueltaten und dem wahllosen Beschuss von Wohngebieten längst zu spät. Der Kremlchef wird bis ans Ende seiner Tage in großen Teilen der Welt ein Geächteter sein. In absehbarer Zeit könnte die Frage ins Zentrum rücken, wie Putin in seiner Heimat die von ihm ausgelöste Katastrophe erklären kann. In Russland könnte sich sein Schicksal entscheiden.

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