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Krieg in der Ukraine: Ukrainische Anwältin: "Vergewaltigungen passen zur russischen Propaganda"

Krieg in der Ukraine

Ukrainische Anwältin: "Vergewaltigungen passen zur russischen Propaganda"

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    Auf Anti-Kriegs-Demonstrationen wird Präsident Putin als Kriegsverbrecher gebrandmarkt. Der internationale Strafgerichtshof und auch das deutsche BKA ermitteln.
    Auf Anti-Kriegs-Demonstrationen wird Präsident Putin als Kriegsverbrecher gebrandmarkt. Der internationale Strafgerichtshof und auch das deutsche BKA ermitteln. Foto: Marc John, Imago

    Von den Kriegsschauplätzen in der Ukraine erreichen uns Berichte über schreckliche Vergewaltigungen und sexualisierte Folter. Wie weit verbreitet ist sexualisierte Gewalt in diesem Konflikt?
    KATERYNA BUSOL: Offenbar gibt es ziemlich viele Übergriffe, aber es ist unmöglich, die Situation auch nur annähernd zuverlässig zu beurteilen. Es ist sehr schwierig, in einem aktiven Kriegsgebiet Ermittlungen durchzuführen. Außerdem fällt es den Opfern sexueller Übergriffe oft schwer, sich zu melden. Klar ist jedoch: Die Muster, die wir jetzt sehen, sind in größerem Umfang repräsentativ für das, was im Kontext des Krim-Konflikts schon seit 2014 passiert.

    Können Sie dieses Muster beschreiben?
    BUSOL: Es gibt sexuelle Übergriffe gegen die ukrainische Zivilbevölkerung, sexualisierte Folter und Misshandlung von Kriegsgefangenen. Kürzlich kamen 86 ukrainische Kriegsgefangene, darunter 15 Frauen, frei, im Rahmen eines Gefangenenaustauschs mit Russland. Sie berichteten, dass sie gezwungen wurden, sich vor allen auszuziehen, dass sie überall durchsucht wurden und sich vor ihren Bewachern hinhocken mussten. Und dann sind da die schrecklichen Verbrechen, die an der Zivilbevölkerung begangen werden: Kinder werden vergewaltigt, Frauen vor den Augen ihrer Kinder geschändet, Vergewaltigungsopfer werden verbrannt. Ich muss sagen – als Juristin und als Zivilistin -, dass ich Gewalt und Bösartigkeit in dem Ausmaß wie seit der russischen Invasion im Februar noch nie gesehen habe.

    Ein UN-Bericht fand 2017 keinen Hinweis darauf, dass in der Ukraine sexuelle Übergriffe aus militärstrategischen Gründen begangen wurden. Ist das jetzt anders?
    BUSOL: Ich habe dieser Analyse schon damals nicht zugestimmt. Es gibt eine mehr oder weniger systematische Anwendung sexualisierter Gewalt durch die russischen Streitkräfte. Das sind Verbrechen, die bei den Opfern den intimsten Wesensteil zerstören und die in der Öffentlichkeit als furchtbare Drohung wirken. Diese Taten sind ein Mittel der Unterdrückung und Unterwerfung des ukrainischen Volkes. Sie können deswegen durchaus als Kriegswaffe bezeichnet werden. Und sie passen zur russischen Propaganda.

    Können Sie das erklären?
    BUSOL: Der russischen Propaganda zufolge muss die Ukraine vom Nationalsozialismus befreit werden. Demnach wurde die ukrainische Bevölkerung durch den so genannten Westen einer Gehirnwäsche unterzogen und macht sich mitschuldig an den angeblichen antirussischen Aktionen der Regierung in Kiew. Alle Ukrainer, Soldaten wie Zivilisten, werden in dieser Erzählung völlig entmenschlicht - was es den russischen Soldaten ermöglicht, ohne Angst vor Strafe zu morden und zu vergewaltigen.

    Bei den Opfern sexueller Übergriffe, die sich bisher gemeldet haben, handelt es sich fast ausschließlich um Frauen. Gibt es auch männliche Opfer?
    BUSOL: Seit Beginn des Krim-Krieges 2014 sind Männer in Gefangenschaft Opfer von Vergewaltigung geworden; sie wurden mit Elektroschocks an den Genitalien gefoltert und mit der Androhung von Kastration unter Druck gesetzt. Männliche Opfer von Sexualverbrechen werden immer noch stärker stigmatisiert und haben es schwerer, Gehör zu finden. Wichtig ist in diesem Kontext auch die Situation von LGBTQ-Personen: Queere, lesbische und schwule Freiwillige haben sich öffentlichkeitswirksam den ukrainischen Streitkräften angeschlossen. Ich sorge mich um ihre Sicherheit. Die russische Armee ist für ihren rücksichtlosen Umgang mit Homosexuellen berüchtigt.

    Wie kann den Opfern von sexueller Gewalt in der Ukraine jetzt geholfen werden?
    BUSOL: Nichtregierungsorganisationen wie La Strada berichten von einem Ansturm auf ihre Hotlines. Ihre Aufgabe ist es, die Opfer mit den überlebenswichtigen Informationen zu versorgen: Wo gibt es medizinische Hilfe wie Notfallverhütung? Welche Möglichkeiten der Selbsthilfe und der psychologischen Unterstützung gibt es? Und natürlich müssen diese Verbrechen aufgeklärt und die Täter vor Gericht gestellt werden.

    Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Venediktova hat sich bereits mit internationalen Experten beraten und sie um Unterstützung gebeten. Wie können solche Verbrechen inmitten eines bewaffneten Konflikts untersucht werden?
    BUSOL: Was Ermittler verstehen müssen: Sie müssen den Überlebenden Zeit geben, zu schweigen - so lange wie nötig. Ja, Tempo ist bei solchen Ermittlungen wichtig, aber die Opfer dürfen nicht retraumatisiert werden. In der Vergangenheit wurden Übergriffe in Kriegen oft wie eine Vergewaltigung in Friedenszeiten behandelt: Beweise mussten sofort gesichert, medizinische Untersuchen innerhalb von 72 Stunden durchgeführt werden. Das ist in der aktuellen Situation kaum möglich und es ist auch nicht nötig - es gibt andere Möglichkeiten, diese Verbrechen zu untersuchen. Die Opfer sind in einem sehr labilen Zustand, sie können oft nicht einmal mit ihren eigenen Angehörigen sprechen. Es ist entscheidend, sie erst einmal zu stabilisieren.

    Was brauchen die Überlebenden am dringendsten?
    BUSOL: Sexuelle Gewalttaten traumatisieren nicht nur die Opfer, sondern auch deren Partner und Familien. Aus Gesprächen mit Überlebenden würde ich sagen, dass es wirklich wichtig ist, ihnen Zugang zu Therapie, auch zu Paartherapie zu verschaffen. Sie brauchen Unterstützung bei der beruflichen Wiedereingliederung - und bei der Wohnungssuche. Für Überlebende sexueller Gewalt ist es essenziell, die Sicherheit eines Zuhauses zu spüren. In dieser Hinsicht gab es schon früher zu wenig Unterstützung– und jetzt ist das eine noch viel größere Herausforderung.

    Wie reagiert man in der Ukraine auf diese Kriegsverbrechen?
    BUSOL: Die jüngsten Berichte über sexuelle Übergriffe haben zu einem Umdenken bei den Ermittlungsbehörden beigetragen, sodass diesen Taten endlich mit der nötigen Aufmerksamkeit und Expertise begegnet wird. In der ukrainischen Gesellschaft findet ein zweiter Wandel statt, über den ich mich sehr freue: Die Öffentlichkeit hat Mitgefühl mit den Opfern. Statt Stigmatisierung gibt es viel Unterstützung. Der Wunsch nach Gerechtigkeit ist weit verbreitet. Die Verbrechen werden nicht nur als Verbrechen gegen Individuen gesehen, sondern als Teil des Angriffs auf die gesamte Nation.

    Zur Person

    Die ukrainische Anwältin Kateryna Busol hat sich auf Menschenrecht und internationales Strafrecht spezialisiert. Sie ist unter anderem für den Thinktank Chatham House tätig und arbeitet aktuell im Rahmen eines Forschungsstipendiums in Regensburg.

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