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Ukraine-Krieg: Retterin an der Front: Anitas hartes Leben im Ukraine-Krieg

Ukraine-Krieg

Retterin an der Front: Anitas hartes Leben im Ukraine-Krieg

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    Anita sitzt im Rettungswagen nahe der Front. Die gesamte Ausstattung besteht aus ihrem gefüllten Sanitäterrucksack und einer Trage.
    Anita sitzt im Rettungswagen nahe der Front. Die gesamte Ausstattung besteht aus ihrem gefüllten Sanitäterrucksack und einer Trage. Foto: Till Mayer

    Der Ambulanz-Wagen hat wenig an Ausrüstung zu bieten. Ein alter VW-Transporter, der Lack wurde hastig in oliv-grün drübergezogen, der Wagen ist ohne jede Innenausstattung. Eine graue Trage liegt auf dem blanken Metallboden und daneben der Notfall-Rucksack. Darin sind unter anderem Verbandszeug, Gummischläuche, Bandagen, ein Beatmungsbeutel, Spritzen und Trachealkanüle. Das alles steht Anita zur Verfügung, um Menschen zu retten. 

    Dabei setzt sie ihr eigenes Leben aufs Spiel. Kein Rotes Kreuz auf weißem Grund kennzeichnet den Wagen als Sanitätsfahrzeug – ein Schutzzeichen für den Verwundetentransport, der mit dem betagten Wagen stattfindet. „Die russischen Soldaten scheren sich nicht um die Genfer Konventionen. Ganz im Gegenteil, wir sind sogar ausgesprochene Ziele für sie. Sie schießen zuerst auf einen Rettungswagen. Das ist bitter“, sagt die 37-Jährige. Und so unterscheidet sich die Ambulanz vom Aussehen her nicht von einem der üblichen Transporter der Armee.

    Ehrensache für viele ukrainische Soldatinnen: gepflegte und lackierte Fingernägel.
    Ehrensache für viele ukrainische Soldatinnen: gepflegte und lackierte Fingernägel. Foto: Till Mayer

    Im Raum Charkiw gibt es kaum ein Haus, das nicht beschädigt ist

    Der Wagen steht im Schatten eines Baums. Verdeckt, um nicht von Drohnen erkannt zu werden. Es gab an diesem Tag bereits mehrere Einschläge. Manchmal hört man auch den Knall, wenn die ukrainischen Streitkräfte eine Haubitze abfeuern. Das Dorf, irgendwo im Oblast Charkiw, nicht weit von der Front entfernt, ist verlassen. Es gibt kaum ein Haus, das nicht beschädigt ist oder in Trümmern liegt. Von der Schule ragen nur noch kahle Wände in den Himmel. Hier wartet Anita auf ihren Einsatz, wenn das Funkgerät sie zu den nahen Stellungen ruft. 43.000 Frauen dienen wie sie in der ukrainischen Armee, direkt an der Front meist als Sanitäterinnen. Seit Beginn der Invasion bis Anfang Mai fielen 107 Frauen oder wurden schwer verwundet. Die meisten von ihnen dürften Sanitäterinnen sein – oder gewesen sein.

    Die Bilder der Zerstörung sind für Anita zum bedrückenden Alltag geworden. Schon 2014, als Russland den Krieg in den Donbas trug, hatte sie sich als Rettungssanitäterin bei einer Freiwilligenorganisation beworben. Die ausgebildete Physiotherapeutin begleitete zwei Jahre lang die Evakuierungen der Verwundeten aus dem Kampfgebiet. 2019 trat sie in die Territorialverteidigung ein. Als am 24. Februar vergangenen Jahres Putin den Befehl zur groß angelegten Invasion auf die ganze Ukraine gab, meldete sie sich am ersten Tag zum Dienst. 

    Die russischen Einheiten standen bald vor ihrer Heimatstadt Charkiw. 80 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner flohen, Tausende, die blieben, suchten in U-Bahn-Stationen Schutz. Die Stadt wurde mit Artillerie und Raketen beschossen. In manchen Stadtvierteln blieb kein Haus unbeschädigt. Kaum ein Beobachter gab in den ersten Tagen der Invasion den Ukrainern eine Chance, die Großstadt noch lange zu halten. Doch Charkiw fiel nicht. Auch wegen Männern und Frauen wie Anita, die ihre Stadt tapfer verteidigten. „Charkiw ist eine lebendige und offene Stadt. Wir lieben unsere Freiheit, und wir kämpfen um sie“, sagt die Soldatin. Sie erzählt von ihrem Hobby. Anita tanzt für ihr Leben gerne. „Eigentlich bin ich für alle Tänze offen, egal von welchem Erdteil“, meint sie. Sie erzählt davon, wie sie in ihrem Garten am Stadtrand von Charkiw gerne pflanzt und erntet. Von Blumen, die dort wachsen. Anitas Stimme wird weich. Inmitten des zerstörten Dorfs sind das Erzählungen aus einer fremden Welt. 

    Anita hofft, dass ihre 16-jährige Tochter nicht in den Krieg muss

    Stolz berichtet sie von ihrer 16-jährigen Tochter, die Medizin studieren will. Davon, dass sie gerne noch einmal Mutter geworden wäre. Aber dann kam 2014 der Krieg. Und jetzt die Invasion. Und sie hofft, dass ihre Tochter keine Uniform mehr tragen wird. „Aber leider deutet nichts darauf hin, dass dieser Krieg schnell endet“, meint Anita. 

    Anitas Vater ist Kubaner. Sie sei „100 Prozent ukrainisch mit kubanischem Blut“, sagt Anita mit einem Lächeln. „Als die Invasion begann, war es für mich sofort klar, was ich zu tun habe. Es geht um mein Land, um meine Stadt, es geht um unsere Freiheit“, sagt die 37-Jährige. Als die russischen Verbände im Herbst vergangenen Jahres aus der ganzen Region Charkiw vertrieben wurden, wurden Anita und ihre Einheit nach Bachmut verlegt. 

    Charkiw ist die Heimatstadt von Anita. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine liegt nahe der russischen Grenze und wurde durch den Beschuss der russischen Streitkräfte schwer beschädigt.
    Charkiw ist die Heimatstadt von Anita. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine liegt nahe der russischen Grenze und wurde durch den Beschuss der russischen Streitkräfte schwer beschädigt. Foto: Till Mayer

    „Es war eine harte Zeit“, sagt Anita leise. Bachmut ist das Epizentrum des russischen Angriffskriegs, russische Einheiten feuerten monatelang auf die Stadt, bis sie nur noch ein Trümmerhaufen war. „Die Einschläge kamen oft ohne Unterbrechung. Wir standen unter Dauerbeschuss. Rings um uns krachten die Explosionen. Viele unserer Soldaten hatten sich in diesen kalten Wintermonaten das Covid-Virus eingefangen, kämpften geschwächt mit Fieber. Es war ein Albtraum“, berichtet die 37-Jährige. Die eigenen Truppen rückten vor, zogen sich wieder zurück. Es gab viele Tote und Verwundete. 

    Die Sanitäterin wurde selbst Opfer des Ukraine-Kriegs

    Ihre Aufgabe als Feldsanitäterin ist es, die Verwundeten so schnell wie möglich von der Front zum nächsten Stabilisierungspunkt zu bringen. Oft sind das Kellerräume, die Schutz vor den Einschlägen bieten. Ausgestattet sind sie mit OP-Tischen, einfachsten medizinischen Geräten. Dort sind Notoperationen möglich, die die Verletzten bereit für den Transport in die Hospitäler im Hinterland machen sollen. Für Anita zählt oft jede Minute, wenn sie die Verwundeten bringt. Sie muss Blutungen bei Soldaten stoppen, denen Explosionen Gliedmaßen abgerissen haben. Versorgt Wunden, die Schrapnelle in das Fleisch gerissen haben, legt Verbände auf Einschusslöcher in menschlichen Körpern. Das alles passiert, während der VW-Bus mit höchstmöglicher Geschwindigkeit über Schlaglöcher rattert, der Fahrer ausgebrannten Wracks und Trümmern auf der Fahrbahn ausweicht. Sie selber unter Beschuss kommen. Nicht alle Patienten schaffen es. So sterben Männer in den Kampfanzügen unter ihren Händen. Es sind Bilder, die in ihr bleiben. 

    Dann kam in einer Stellung ein Einschlag, der sie selber traf. Mit voller Wucht hatte die russische Artillerie sie unter Feuer genommen. Die Wände wackelten unter dem Druck der nahen Einschläge. „Nach der Explosion war ich kurz bewusstlos“, berichtet Anita. Sie sah dann das eigene Blut auf ihrer Hose, merkte, dass sich Schrapnelle in ihr Bein gefressen hatten. Es pfiff in ihren Ohren. Anita begann, ihre verletzten Kameraden zu versorgen. Mit letzter Kraft. Dann kam Anita selbst ins Krankenhaus. 

    Anita auf dem Beifahrersitz "ihres" Rettungswagens.
    Anita auf dem Beifahrersitz "ihres" Rettungswagens. Foto: Till Mayer

    Eine erste Begegnung mit ihr gab es Anfang März in der Rehabilitation. Anita hörte noch immer schlecht. Die Hölle von Bachmut stand ihr ins Gesicht geschrieben. Manchmal musste sie damals beim Interview lange überlegen, wenn sie einen Satz bildete. Anita, die Retterin, war traumatisiert. 

    „Ich war sehr krank. Aber jetzt bin ich glücklich, wieder meine Arbeit zu machen. Hier ist mein Platz“, sagt sie heute in einem einfachen Englisch zum Abschied. Einen Wunsch gibt sie dann in Ukrainisch nach Deutschland mit. „Wir bräuchten mehr und besser ausgestattete Ambulanzen. Die Straßen sind oft wie hier sehr schlecht, der Verschleiß an Material ist groß.“ Dann verschwindet sie mit dem olivgrünen VW-Transporter auf einer holprigen Straße in einem verlassenen Dorf nahe der Front.

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