Wladimir Putin verliert kein Wort der Begrüßung zu viel. Er geht an diesem Dienstag gleich in die Vollen. „Wir erleben eine schwierige Zeit für unser Land“, gibt der russische Präsident zu Beginn seiner Rede an die Nation unumwunden zu. „Eine Zeit des Umbruchs in der Welt“, ergänzt er und leitet sofort dazu über, die Invasion in der Ukraine vor einem Jahr zu rechtfertigen. Russland habe „aufrichtig Frieden gewollt“. Mit Kiew und dem Westen. Doch dort, vor allem in den USA, habe man sich „auf einen großen Krieg vorbereitet“. Der Westen habe gelogen und betrogen. Es habe Versuche gegeben, die Ukraine mit Atom- und Biowaffen auszurüsten. Fazit: „Der Westen hat diesen Krieg begonnen. Wir wenden Gewalt an, um ihn zu beenden.“
Man hat all diese Putinschen Falschbehauptungen schon oft gehört. Es ist die übliche Täter-Opfer-Umkehr. Das Neue und damit den verbalen Donnerschlag hebt sich der Kremlchef vor Hunderten Deputierten der Staatsduma und des Föderationsrates, vor Militärs und höchsten Kirchenvertretern bis zum Schluss auf: „Der Westen will uns eine Niederlage zufügen und hat es auf unser Nukleararsenal abgesehen. Deshalb wird Russland seine Teilnahme am Abkommen über strategische Offensivwaffen aussetzen.“ Gemeint ist der New-Start-Vertrag von 2011, der die Zahl der Atomsprengköpfe und der Trägersysteme in Russland und den USA begrenzt. Dies sei kein endgültiges Aus, sagt Putin, aber ein zwingendes Signal.
Genau darum, um eine klare Botschaft, geht es dem russischen Präsidenten an diesem Mittag im historischen Handelszentrum Gostiny Dwor. Das zeigt sich vor allem in der Art des Vortrags. In früheren Jahren hat Putin seine Rede an die Nation gern für innenpolitische Ansagen genutzt. Mal wolkig und floskelhaft, mal detailverliebt. Diesmal aber steht da einer, der um nichts mehr herumredet. Das Wort „Krieg“ geht ihm lockerer über die Lippen als die von ihm selbst erfundene Verharmlosung „Spezialoperation“. Er stellt klar, dass es „unmöglich ist, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen“. Kurz: Es gibt kein Zurück. Das ist die Botschaft, die der Kremlchef mit fester Stimme verkündet. Sie richtet sich an die eigenen Landsleute, an den Westen und die gesamte Welt.
Als sie raus ist, wendet sich Putin doch noch der Innenpolitik zu. Aber da wissen bereits alle, dass dieser Mann in seinem Willen zum Sieg genauso unerschütterlich ist wie Joe Biden. Denn natürlich antwortet der Kremlchef mit seiner Rede auch auf den US-Präsidenten, der tags zuvor mit einem spektakulären Blitzbesuch in der Ukraine weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat. Dumm für Putin ist nur, dass Biden an diesem Dienstag das letzte Wort hat. Aus Kiew ist der 80-Jährige mit dem Zug zur Grenze gefahren und dann nach Warschau weitergeflogen. Dort trifft er sich zunächst mit Präsident Andrzej Duda. Dessen Land sei ein Schlüsselstaat im Kampf um die Freiheit, versichert Biden und betont den Zusammenhalt: „Die USA brauchen Polen so sehr, wie Polen die USA braucht.“
Biden hat einen Zeitvorteil gegen Putin
Da hat Putin seine Rede gerade beendet. Doch der große Auftritt des US-Präsidenten ist erst für den Abend geplant. Das gibt Biden Zeit, sich zurückzuziehen und eine Antwort auf die „absurden Vorwürfe“ aus Moskau vorzubereiten, von denen seine Delegation schon am Nachmittag spricht. Biden wählt schließlich einen rhetorischen Kniff. Er ignoriert Putins Attacken und wendet sich direkt an das russische Volk: „Wir wollen Ihr Land nicht angreifen oder zerstören.“ Vielmehr stehe das Überleben der unabhängigen Ukraine auf dem Spiel. Vor der Kulisse des wiederaufgebauten Warschauer Königsschlosses, das die Deutschen im Weltkrieg in Schutt und Asche legten, beschwört Biden die unerschütterliche Unterstützung des Westens für das angegriffene Land: „Ein Diktator wird niemals die Freiheitsliebe der Nationen unterdrücken können.“ Dass Biden für diese Botschaft zum zweiten Mal in nur elf Monaten nach Polen gereist ist, verstehen die Menschen dort als einzigartiges Zeichen der Solidarität. Jubel brandet auf, als der US-Präsident den Menschen in Polen für ihre Hilfe dankt, die sie den Geflüchteten aus der Ukraine geleistet haben. „Sie haben Ihre Herzen und Häuser geöffnet“, sagt Biden. „Ich liebe Sie!“
Biden hat in Warschau ein ähnliches Heimspiel wie in Kiew. Wenn Kritik kommt, dann von jenen, die noch mehr Entschlossenheit fordern. Im Stadtzentrum haben Ukraine-Unterstützer eine riesige Videoleinwand gemietet, über die normalerweise Werbung flimmert. Nun prangt dort ein Aufruf an den mächtigsten Menschen der Welt, eine Koalition für Kampfjets zu schmieden: „Biden, gib die F-16 an die Ukraine.“ Der US-Präsident wird sich dazu kaum hinreißen lassen. Sein Ziel in Warschau ist es, die Ostflanke des Westens zu stärken. Am Donnerstag trifft er sich mit den „Bukarest Neun“, einer Staatengruppe osteuropäischer Nato-Mitglieder. Entscheidend für Biden wird auch dann sein, Einigkeit zu demonstrieren.
Denn der US-Präsident liefert sich mit Putin in diesen Tagen nicht nur einen verbalen Schlagabtausch. Das Fernduell der Staatschefs ist auch ein Kampf um die besseren Bilder. Und da hat Biden die Nase weit vorn. Allein der Auftritt in Kiew am Montag, wo sich der US-Präsident zumindest theoretisch einem russischen Raketenbeschuss auslieferte, ließ Putin geradezu als mutlos dastehen. In Warschau braucht Biden nur hinzuzufügen: „Putin dachte, dass wir im Westen weich und schwach sind. Es ist umgekehrt: Die Autokraten dieser Welt sind im vergangenen Jahr schwächer geworden.“