Für einen Moment schien die Welt für Joe Biden wieder in Ordnung zu sein, als Trompeter und Trommler in Gardeuniformen die Ankunft der Ehrengäste im ehrwürdigen Andrew W. Mellon Auditorium ankündigten. Stolz betraten die Staats- und Regierungschefs der 32 Nato-Mitgliedsstaaten die Bühne jenes historischen Saals, in dem vor 75 Jahren der Nordatlantikvertrag unterzeichnet worden war. Waren die politische Schwäche des US-Präsidenten sowie die drohende Machtübernahme Donald Trumps plötzlich vergessen?
Kaum. Denn natürlich verfolgten die Vertreter der US-amerikanischen, aber auch der internationalen Medien ganz genau, wie sich der Präsident auf der Weltbühne schlug. Der 81-Jährige las seine Rede vom Teleprompter ab. Dadurch vermied er die gefürchteten Versprecher und Patzer. Seine Gestik wirkte entschlossen, seine Stimme kraftvoll. Doch die Debatte darüber, ob Biden einer weiteren Amtszeit gewachsen ist, ist damit nicht beendet - zu augenfällig waren seine Aussetzer im Fernsehduell mit Donald Trump, zu widersprüchlich die Erklärungsversuche aus dem Umfeld des Amtsinhabers für das Desaster.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dürfte erleichtert gewesen sein, dass dann doch das Schicksal seines Landes angesichts des zuletzt weiter eskalierenden russischen Angriffskrieges nicht nur in den Mittelpunkt des Gipfels rückte, sondern dass es Signale für eine Verstärkung der Luftabwehr der Ukraine gab. Die blutigen Gründe dafür lieferte Russland - bei den Nato-Mitgliedern in Washington war die Empörung über die Attacke auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew groß. Weitere über 40 Tote und 200 Verletzte soll es nach Angaben Selenskyjs bei russischen Luftschlägen am Dienstag in Kiew gegeben haben.
Zusagen für Luftabwehrwaffen in einer gemeinsamen Erklärung
In einer gemeinsamen Erklärung von Joe Biden und mehrerer europäischer Partner - darunter Deutschland - war zu Beginn des Gipfels zum Nato-Jubiläum die Zusage gemacht worden, die Ukraine „mit zusätzlichen Luftverteidigungsfähigkeiten auszustatten“. Es geht in der gemeinsamen Erklärung zwar nicht nur um das System Patriot, denn gleichzeitig wird in dem Statement die Lieferung von Flugabwehrsystemen samt Munition der Typen Nasam, Hawk, Iris und Gepard zugesichert. Die Patriots sind jedoch der Eckpunkt der ukrainischen Verteidigungsstrategie. Die USA haben zugesagt, ein weiteres, sprich dann ein zweites System dieser modernen Flugabwehrwaffe zu liefern. Patriot bietet die weltweit derzeit effektivsten Möglichkeiten, Kampfjets, Drohnen oder ballistische Raketen abzuwehren. Jeweils ein System ist in der Lage, parallel bis zu 50 anfliegende Ziele zu beobachten und fünf Objekte gleichzeitig zu bekämpfen.
Die Niederlande und weitere europäische Staaten haben in der gemeinsamen Erklärung angekündigt, in Kooperation ein zusätzliches Patriot-System aus einzelnen Komponenten zusammenzustellen. Insgesamt stünden der Ukraine dann fünf Abwehrsysteme zur Verfügung, um sich vor russischen Angriffen zu schützen. Selenskyj hatte erklärt, dass sein Land jedoch in einem ersten Schritt dringend mindestens sieben dieser Systeme benötige. Eine weitere gute Nachricht für Kiew kam am Nachmittag deutscher Zeit: Noch in diesem Sommer sollen die von ausländischen Partnern versprochenen F-16-Kampfjets in der Ukraine zur Abwehr des russischen Angriffskrieges zum Einsatz kommen.
Doch welche Rolle spielt Deutschland? Ohne Zweifel eine tragende, denn Anfang Juni dieses Jahres hat die Ukraine das bereits dritte Patriot-System aus Beständen der Bundeswehr erhalten. Das erste System wurde im April 2023 geliefert. „Deutschland hat einen großen Schritt gemacht, das anzuregen, andere davon zu überzeugen, dass das notwendig ist“, sagt Bundeskanzler Olaf Scholz denn auch selbstbewusst in Washington vor einem Treffen mit Selenskyj. Eines könne man sicher sagen, so der Kanzler: „Ohne dass Deutschland vorangegangen wäre, würde dieser Schritt jetzt nicht erfolgen“. Gleichzeitig stellte er Kiew weitere Systeme in Aussicht. „Aus meiner Sicht ist dieser Prozess nicht abgeschlossen.“
Trotz dieses Engagements gab es immer wieder Kritik daran, dass Kiew diese Abwehrwaffe weit früher hätte erhalten müssen. Doch die Bundesregierung zögerte lange Zeit - wie auch andere Nato-Staaten. Bereits seit Monaten verweist der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) darauf, dass weitere Lieferungen von Patriot-Systemen die eigene Einsatzbereitschaft gefährden würden. Neubestellungen zur Lückenschließung sind geplant, doch noch nicht unter Dach und Fach. Pistorius und Verteidigungsministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatten bereits im April per Brief mit Blick auf diese Lage an die Partner innerhalb, aber auch außerhalb der Nato appelliert, ihrerseits die Ukraine mit Patriot-Systemen zu unterstützen - bis heute allerdings mit überschaubarem Erfolg.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden