Es soll ein starkes Signal an den Kreml senden, auch wenn der Vorschlag selbst in manchen Brüsseler Kreisen als brisant gilt: Die Gemeinschaft will mit Zinsgewinnen aus eingefrorenem russischem Vermögen Waffen und Munition für die Ukraine finanzieren. So könnten laut Schätzungen der Kommission für das laufende Jahr zwischen 2,5 und drei Milliarden Euro an „außerordentlichen Einnahmen“ anfallen, wie es am Mittwoch hieß. In Brüssel wird gerne auch von „Zufallsgewinnen“ geredet, weil man nicht den eigentlichen Besitz im Blick hat, sondern die Zinsen. 90 Prozent davon sollen auf Wunsch der Kommission in einen Sonderfonds fließen, der die Mitgliedstaaten dabei unterstützt, militärische Ausrüstung für die Ukraine zu beschaffen. Zehn Prozent würden an die neu gegründete Ukraine-Fazilität, ein Instrument unter anderem zur Unterstützung des Wiederaufbaus, gehen.
Seit Kriegsbeginn überlegen die EU-Länder, wie sie die blockierten Zentralbank-Gelder aus Russland so nutzen können, dass die Ukraine davon profitiert und bei ihrer Verteidigung gegen den Aggressor unterstützt wird. Am Mittwoch übermittelten die Brüsseler Behörde unter Ursula von der Leyen und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell den Regierungen der 27 Mitgliedstaaten formell ihre konkreten Pläne, bevor die Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag zum zweitägigen EU-Gipfel in Brüssel zusammenkommen. Das Thema steht auf der Agenda, auch wenn in einigen Hauptstädten noch Skepsis, mitunter sogar Widerstand herrscht.
Einige EU-Staaten wollen das Geld lieber für den Wiederaufbau der Ukraine verwenden
So wollen Ungarn, Malta, Luxemburg und die Slowakei beispielsweise die Gewinne aus eingefrorenen Vermögenswerten statt zum Kauf von Waffen vielmehr für den Wiederaufbau des Landes verwenden. „Was aber bleibt zum Wiederaufbau übrig, wenn die Ukraine sich nicht selbst verteidigen kann?“, fragte ein Brüsseler Diplomat. Andere verwiesen darauf, dass Militärgerät unter anderem auch zum Schutz kritischer Infrastruktur eingesetzt werde. Hinter den Kulissen zeigte man sich zuversichtlich, zumindest den Ball ins Rollen zu bringen. In einem dieser Redaktion vorliegenden Entwurf der Schlusserklärung rufen die Mitgliedstaaten die Kommission dazu auf, „die nächsten Schritte zügig einzuleiten“, um „die außerordentlichen Einnahmen aus den stillgelegten Vermögenswerten Russlands zugunsten der Ukraine zu verwenden, möglicherweise auch zur Finanzierung militärischer Unterstützung“. Moskau reagierte derweil mit Kritik. So klagte die Sprecherin des russischen Außenministeriums über „Banditentum“ und „Diebstahl“.
Die EU hat Schätzungen zufolge etwa 300 Milliarden Euro russische Zentralbankreserven festgesetzt, rund zwei Drittel dieses Vermögens liegen innerhalb der Gemeinschaft. Es lagert bei sogenannten Zentralverwahrern, die im Auftrag von Banken und Zentralbanken wie Riesentresore funktionieren und Wertpapiere und anderes Vermögen verwalten. Der Löwenanteil befindet sich auf Konten des belgischen Finanzkonzerns Euroclear. Während das Geld zwar weiterhin Moskau gehört, kann der Kreml nicht frei darüber verfügen. Nach eigenen Angaben hat Euroclear im vergangenen Jahr durch die Verwahrung der Vermögenswerte rund 4,4 Milliarden Euro an Zinserträgen verdient. Künftig könnten 97 Prozent der Einnahmen an das kriegsgeplagte Land fließen. Drei Prozent soll Euroclear für den Aufwand einbehalten können.
Experten warnen davor, das komplette russische Vermögen zu beschlagnahmen
Während immer wieder Stimmen laut wurden, die forderten, das tatsächliche Vermögen komplett zu beschlagnahmen und das Geld der Ukraine zu überweisen, mahnten Experten vor einem derartigen Schritt. Auch mehrere EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, lehnten ein solches Vorgehen wegen ungeklärter rechtlicher Fragen ab. Die EU-Kommission sieht offenbar ebenfalls keine juristische Basis für eine Konfiszierung der Milliarden. Sie käme einem Bruch mit internationalem Recht gleich, der, so die Sorge vieler Europäer, unabsehbare Folgen für das Vertrauen in den Finanzmarkt hätte.
Deshalb nimmt sich die EU nun also die Zinsgewinne vor, denn diese Profite gäbe es überhaupt nur wegen der Sanktionen und sind damit nicht zweifelsfrei Moskau zuzurechnen, so die Argumentation. Von der Leyen befürwortet entsprechende Pläne seit Langem. Im vergangenen Jahr verlangte die Deutsche, „der Täter muss zur Rechenschaft gezogen werden“, vor wenigen Wochen befand sie, es könne „kein stärkeres Symbol und keine bessere Verwendung dieses Geldes geben, als die Ukraine und ganz Europa zu einem sichereren Ort zu machen“. Auch der Spanier Borrell hatte sich bereits in der Vergangenheit hinter die Idee gestellt. Am Dienstag erst empfahl der Außenbeauftragte, 90 Prozent der Zinseinnahmen in Militärhilfen für die Ukraine zu stecken und den Rest an die dortige Verteidigungsindustrie zu geben.