Nichts ist mehr ganz. Kein Haus, kein Stall. Links und rechts der staubigen Straße ragen nur Trümmer auf. Graue Holzlatten fingern in den Himmel. Früher trugen sie Dächer. Jetzt blickt man durch sie auf ausgebrannte Wände. Ruinen von meist einstöckigen Häusern stehen hinter Büschen und umgekippten Zäunen. Einschläge haben Risse in Mauern gezogen. Über all der Zerstörung wölbt sich ein strahlend blauer Himmel. Stille. Irgendwo singt ein Vogel in dem menschenverlassenen Ort. Bogdan hat den Helm in den Nacken geschoben. "Diese Stille macht einen verrückt", sagt der 43-Jährige.
Bogdan blickt oft nach oben, selbst wenn er spricht. Sucht das Blau mit seinen braunen Augen ab. Der Soldat an der Bachmut-Front screent den Himmel regelrecht. "Keine Wolken, klare Sicht für die Drohnenpiloten", flucht er leise. In wenigen Kilometern Entfernung grummelt tief und schwer die Artillerie. "Taschassiw Jar", sagt Bogdan. Die nächste Stadt, die die russischen Truppen gerade sturmreif schießen.
"Derzeit hat der Feind taktischen Erfolg", heißt es im Lagebericht des ukrainischen Generalstabs
An der Front findet ein brutaler Wettlauf mit der Zeit statt. Monatelang hatte der US-Kongress milliardenschwere Hilfen für die ukrainische Armee blockiert. Die EU und westliche Partner liefern bis jetzt nicht im vollen Umfang, was sie versprochen haben. Die Aggressoren nutzen die entstandene Schwäche der Verteidiger, bevor die ukrainischen Verbände wieder ihre Waffendepots entlang der 1000 Kilometer langen Front auffüllen. "Russland weiß, dass sich die Lage gegen es wenden könnte, wenn wir in ein bis zwei Monaten genügend Waffen bekommen", sagte der Kommandeur des ukrainischen Heeres, Olexander Pawljuk, der britischen Zeitschrift Economist. So treibt Putin seine Offensive gnadenlos voran. In diesen Tagen vor allem im Nordosten der Ukraine, bei Charkiw.
"Derzeit hat der Feind taktischen Erfolg", zitieren am Montag deutsche Medien den Lagebericht des ukrainischen Generalstabs. Es heißt, mehrere Grenzdörfer seien eingenommen worden. Aktuell werde um Wowtschansk gekämpft, eine Stadt etwa fünf Kilometer von der russischen Grenze. Das russische Militär setze dort trotz hoher Verluste bedeutende Kräfte ein. Seit vergangenem Freitag läuft Russlands neue Angriffswelle in dieser Region. Ein Ablenkungsmanöver? So sieht es die Ukraine. Andrij Kowalenko, Leiter des Zentrums zur Bekämpfung von Desinformation, sagte der ARD: "Sie versuchen, einen Teil unserer Armee zu binden und sie dort in die Verteidigung zu zwingen." Eigentlich gehe es den Russen um Pokrowsk, Kostjantyniwka – und Tschassiw Jar. Und man kann hinzufügen: Die neue Frontlinie wird den Verbrauch der ohnehin knappen Munition weiter beschleunigen.
Front-Soldat Bogdan lehnt mit dem Rücken an einer Hauswand. Die Siedlung hier ist ein Trümmerfeld, wie alle nahe den Schützengräben der ersten Linie. Die Stellungen ziehen sich in weniger als zwei Kilometer Entfernung. "Immer vermeiden, auf offenem Feld zu stehen. Am besten nahe an Mauern und unter Bäumen bleiben. Schatten suchen." Es sind Überlebensregeln, die er gibt. Denn hier ist Drohnenland. Der Tod aus der Luft kann jeden Augenblick kommen. Zack.
Über den Köpfen der Soldaten findet ein Hightech-Krieg statt
Im Netz kursieren Filmschnipsel von Drohnen, die Drohnen beim Töten filmen. Da ist der Soldat, der sich noch einmal umdreht, bevor ihn eine Explosion zerreißt. "Es kann mir hier jeden Augenblick passieren. Daher immer auf der Hut sein. Augen auf", erklärt Bogdan. "Alles fliegt hier durch die Luft. Flugzeuge nehmen uns unter Beschuss. Dann die Kamikazedrohnen mit einer Granate oder größerem Sprengsatz. Aufklärungsdrohnen machen Ziele für die Artillerie ausfindig. Dazu kommt der schwere Beschuss der Artillerie", schildert der 43-Jährige die Situation. Seinen Kriegsalltag.
Über seinem Kopf findet ein Hightech-Krieg statt. Neue Drohnengenerationen sind in Entwicklung, die durch künstliche Intelligenz gesteuert werden. Die Technik wird immer ausgefeilter und tödlicher für Soldaten wie Bogdan. Auch das: ein Wettlauf zwischen beiden Seiten, der mit kriegsentscheidend sein wird. Die Abwehr von Drohnen durch Radiowellen ist ausschlaggebend.
An diesem Hightech-Krieg nimmt Bogdan mit einem Schützenpanzer aus Sowjetzeiten teil, zusammengeschweißt in den 1970er-Jahren. Eine seiner Aufgaben ist es, eben solche Radiowellen-Stationen der russischen Armee unter Beschuss zu nehmen, wenn sie an der Front auftauchen. Oder wenn es darum geht, Verwundete von der Front mit dem Schützenpanzer zu bergen. Gefährliche Einsätze. Es muss schnell gehen. Bogdan geriet schon unter Beschuss. Der nimmt seit Beginn der Offensive an Intensität zu.
Eben war er beim Schützenpanzer. Die tägliche vorgeschriebene Wartungsroutine. Das Ungetüm aus Stahl steht ein gutes Stück entfernt. Halb eingegraben zwischen zwei ausgebombten Bauernkaten. Darüber aus Holzsparren, schwarzen Plastikplanen und Tarnnetzen ein zusammengezimmertes Dach. Jetzt geht es wieder hinunter in einen der traditionellen Gemüsekeller. Dort haust er mit seinen Kameraden. In einer Ruine haben sie ein Landschaftsgemälde gefunden. Bäume im Sommer als gerahmter Kunstdruck. Der hängt unter weiß gestrichenen, grob gehauenen Balken. Ein Bullerofen spendet Trockenheit in dem feuchten Keller. Sie warten auf ihren Einsatzbefehl.
Ukrainischer Soldat: "Die Russen haben ausreichend Munition. Wir nicht"
An der Wand baumelt ein Funkgerät an einem Nagel. Eine Männerstimme warnt scheppernd vor Flugangriffen im Frontabschnitt. Es rauscht aus dem Gerät. Dann Stille. Von der Front her dumpf die mehrfachen Einschläge von Streumunition. "Sie schießen und schießen. Selbst von Gasgranaten hab ich schon gehört", sagt der Soldat. "Die Russen haben ausreichend Munition. Wir nicht." Und das ist auch kein Geheimnis. Auf einen abgegebenen Schuss der Verteidiger kommen sieben der Aggressoren, so die ukrainische Armeeführung.
Seit Monaten stemmt sich die ukrainische Armee gegen eine zunehmend brachiale russische Offensive mit drastisch rationierter Munition; dazu kommt die Mobilisierung nicht in Gang – während Russland seine Wirtschaft auf einen großen Krieg umstellt. Mindestens zwei Millionen Schuss Artilleriemunition braucht die Ukraine jährlich, um sich halbwegs verteidigen zu können, schätzt Datenjournalist Marcus Welsch. Die gesamte Europäische Union beispielsweise bringt es auf eine Produktion von derzeit 1,2 Millionen Schuss im Jahr. Drei Millionen Schuss produziert Russland bereits jährlich mit zunehmender Kapazität. Hinzu kommen Lieferungen aus Nordkorea und Belarus.
Der Munitionsmangel der Ukrainer führte schon zu mehreren Fronteinbrüchen im Donbass. An der Frontlinie bei Awdijiwka, das die russische Armee über Monate sturmreif schoss und einnahm, wird Druck gemacht. Wie eben auch an der Charkiw-Front, an der die russischen Verbände im Grenzbereich eine neue Frontlinie eröffnet haben. Russische Drohnen und Gleitbomben zerstören gezielt die Energie-Infrastruktur im ganzen Land. Die Ukrainer fangen ab, was möglich ist. Doch nach weit mehr als zwei Jahren Krieg haben sie keine ausreichende Luftabwehr erhalten. Mittlerweile ist ein empfindlicher Teil der Energie-Infrastruktur der Ukraine durch Angriffe aus der Luft zerstört.
"Mein Leben hier ist der Bunker und der kurze Weg zum Schützenpanzer", sagt Soldat Bogdan
An der Bachmut-Front, an der Bogdan kämpft, hämmert die russische Artillerie an diesem Tag auf die verlassene Kleinstadt Tschassiw Jar ein. Die Siedlung liegt auf einer Anhöhe. Fällt sie, kann die russische Artillerie das nächste Ziel ins Visier nehmen: Die Stadt Kostjantyniwka ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. "Die Zeiten sind schwer", seufzt der Soldat. Dann ist es Zeit, Abschied zu nehmen. Bogdan steckt sich eine Zigarette an. "Mein Leben hier ist der Bunker und der kurze Weg zum Schützenpanzer. Oft wünsche ich mir, zu Hause bei meiner Familie zu sein. Bin ich es, will ich wieder zurück. Ich weiß, dass ich hier sein muss, um die Stellung zu halten. Es geht um alles", sagt er. Beim letzten Heimaturlaub fragten ihn Freunde: "Wie sieht es an der Front aus?" – "Kommt doch und seht es selbst. Wir brauchen hier jeden Mann, habe ich ihnen gesagt", erzählt er noch. Jetzt ist die Zigarette ausgeraucht, er geht wieder zurück in den Bunker. Besser nicht unnötig lang ein Ziel abgeben.
Keine 20 Minuten mit dem Auto entfernt über holprige Straßen liegt Kostjantyniwka. Das Kulturhaus ist ein langgezogenes Gebäude aus der Sowjetzeit. Die Fenster sind mit Sperrholzplatten vernagelt. Auf einem Grünstreifen an der Straße pflanzen städtische Gärtner mit Blumen das ukrainische Wappen in das Erdreich. "Wir müssen die Menschen, die noch hier sind, ja ein wenig aufbauen", sagt Emir, ihr Chef. Seine Familie habe er schon nach Dnipro in Sicherheit gebracht.