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Ukraine-Konflikt: Russlands Präsident Wladimir Putin: Sein Wahn und seine Traumata

Ukraine-Konflikt

Russlands Präsident Wladimir Putin: Sein Wahn und seine Traumata

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    Wladimir Putin, hier auf einem vergoldeten Stuhl im Kreml, schafft sich seine eigene Deutung der osteuropäischen Geschichte.
    Wladimir Putin, hier auf einem vergoldeten Stuhl im Kreml, schafft sich seine eigene Deutung der osteuropäischen Geschichte. Foto: Alexei Druzhinin, dpa

    Die Lage in der Ostukraine verschärfe sich, man müsse handeln. Ganz schnell. So raunt es durch Moskau an diesem Montag. Das Staatsfernsehen sendet Bilder von weinenden Kindern, die mit Sack und Pack ihr Zuhause haben verlassen müssen, geflohen mit Müttern und Großmüttern, geflohen „vor Schüssen, vor Bomben“, vor der Regierung in Kiew, die „ihre eigenen Leute quält“, heißt es quer durch die Sendungen.

    Das Eilige, Plötzliche, Unerwartete, das der russische Staat da zu inszenieren versucht, stellt sich nach kurzer Zeit als eine lang geplante Operation heraus. Eine Schmierenkomödie nach Kreml-Art, die wie nie zuvor den russischen Feldzug gegen einen Nachbarstaat offenlegt, dem Moskau die Staatlichkeit aberkennt. Die Regie führt Wladimir Wladimirowitsch Putin.

    „Eine seit langem überfällige Entscheidung“ nennt der russische Präsident die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine. Knapp eine Stunde lang verliert er sich am Montagabend in hanebüchenen Details, bevor er das entsprechende Papier unterzeichnet. Alle sollen es hören, was der aufgebrachte und aufgedunsen wirkende Mann fast wie ein Besessener seinem Volk – und nicht nur ihm – mitzuteilen hat. Seine Ansichten, die er als die einzig wahren verkauft.

    Putin regiert Russland seit 22 Jahren

    Putin. Der Mann, der seit den frühen Jahren seiner Präsidentschaft nichts mehr fürchtet als Kontrollverlust. Eine erfolgreiche Demokratie in der Ukraine, für den 69-Jährigen ist dieser Gedanke kaum zu ertragen. Er hält sich an seinem Tisch fest, poltert und poltert. Vor sich die Telefone, hinter sich die russische Flagge. Die Ukraine sei ein Produkt Lenins, ein Geschenk der Sowjetunion, mit dem all ihre ukrainischen Führungspersonen nichts hätten anfangen können. Eine „Kolonie mit Marionetten-Regime“, so nennt Putin die jetzige Regierung in Kiew.

    Er selbst regiert Russland seit 22 Jahren. Doch sein Denken, seine Intention ist so rätselhaft wie lange nicht. Was genau Putins Plan ist bei einem Einmarsch in die Ukraine? Selbst die bestinformierten Moskauer Analystinnen und Analysten zuckten jüngst die Schultern: Alles nur in seinem Kopf.

    In Moskau können auch am Tag nach seiner Rede viele Menschen nicht fassen, was ihr Präsident da von sich gegeben hat. „Warum? Wofür? Und wir müssen jetzt leiden.“ Putins Ausführungen sind selbst an der Supermarktkasse das alles dominierende Thema. Andere freuen sich: „Endlich haben wir es den Amerikanern gezeigt.“ Diese Menschen sind es, für die Putin Heldenstatus erlangen würde, würde er die Ukraine „zurückholen“, dem Westen entreißen.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist für Putin eine "Marionette".
    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist für Putin eine "Marionette". Foto: Ukrinform, dpa

    Putins Ausführungen, emotional, teils tief schnaufend vorgetragen, sollen erklären, dass Russland, dieses vermeintlich vom Westen tief bedrängte und stark bedrohte Land, gar keine andere Wahl gehabt habe, als den „Gequälten und Geschundenen“ in der Ostukraine beizustehen. Der Präsident sagt tatsächlich: „Russland hat alles getan, um die territoriale Integrität der Ukraine zu bewahren.“

    Bereits am Abend überqueren russische Truppen die Grenze zur Ukraine, um – so nennt es Moskau – die „Sicherheit in den Volksrepubliken zu gewährleisten“. Der Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit, den Putin mit den „Oberhäuptern“ der beiden „Volksrepubliken“ kurz zuvor unterschrieben hat, hat eine Klausel zum „militärischen Beistand“. Damit könnte Russland, wie bereits in den von Georgien abtrünnigen und von Russland ebenfalls anerkannten Gebieten Abchasien und Süd-Ossetien, tausende Soldaten in der Ostukraine stationieren. In den Separatistengebieten gibt es in der Nacht zum Dienstag Feuerwerke.

    Für Putin zählt allein die Macht, keine Gefühle. Der heutige US-Präsident Joe Biden sagte einst, er habe Putin einmal in die Augen gesehen und „keine Seele entdeckt“. Am Dienstag bestreitet der Russe, ein neues Imperium errichten zu wollen. „Das entspricht absolut nicht der Wirklichkeit.“ Moskau habe die „Spekulationen“ zu dem Thema gesehen, „dass Russland das Reich in den imperialen Grenzen wieder errichten“ wolle.

    Gibt es die Ukraine? Nein, sagt Putin

    Und dennoch: Für Putin gibt es ein Land wie die Ukraine nicht. Sein Fernsehauftritt zeigt die moralische Vernichtung eines Staates, den Russland nie verstanden hat. Damit führt der Kreml-Herrscher seine Gedanken, die er bereits im vergangenen Sommer in einem Essay niedergeschrieben hatte, fort. Hobbyhistoriker Putin umspannt darin zwölf Jahrhunderte osteuropäischer Geschichte. „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ hat er den wichtigsten Abschnitt genannt. „Doch gibt es die Ukraine wirklich?“, fragt er im Text und liefert die Antwort: Nein. Seine Formel: Großrussen, Kleinrussen (Ukrainer) und Belarussen seien ein einziges, ein „dreieiniges“ russisches Volk und nicht voneinander zu trennen. Alles andere sei eine „Erfindung ohne historische Basis“.

    Wladimir Wladimirowitsch Putin kommt am 7. Oktober 1952 als Sohn einer armen Arbeiterfamilie in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, zur Welt.
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    Russlands Präsident Wladimir Putin hat mit dem Angriff auf die Ukraine die Sicherheitslage in Europa komplett verändert. Ein Überblick über wichtige Wegmarken seinem Leben.

    Was der 69-Jährige schon in seinen damaligen Ausführungen negiert, ist die Tatsache, wie Historiker einen modernen Nationalstaat kennzeichnen. Der Definition zufolge sind moderne Nationen immer erfunden, entstanden durch die Ideen einer gesellschaftlichen Elite: „Imaginierte Gemeinschaft“ nennen Historikerinnen und Historiker das. Manche entstehen früher, andere entstehen später.

    Die Ukraine ist spät entstanden. Im Zuge der Februarrevolution 1917 hatten sich in Kiew Vertreter aus Politik, Kultur und Berufsverbänden für eine provisorische ukrainische Regierung ausgesprochen. Im November 1917 wurde die Ukrainische Volksrepublik ausgerufen, die nach dem Einmarsch der Roten Armee 1920 schon wieder Geschichte war. Die Ukraine wurde Teil der Sowjetunion und 1991, nach deren Zerfall, wieder unabhängig. Schon bei der Auflösung des Sowjetstaates hätten die Grenzen der Ukraine „reduziert“ werden müssen, schreibt Putin. Darauf weist er auch nochmals in seiner Montagsrede hin.

    Putin trauert der Sowjetunion hinterher

    Dem verlorenen Großmachtstatus hat der Kremlchef schon mehrfach öffentlich nachgetrauert. 40 Prozent seines historischen Gebiets habe Russland damals verloren, klagt er in einer Dokumentation des russischen Staatsfernsehens anlässlich des Zusammenbruchs der Sowjetunion vor 30 Jahren. Putin spricht von einer Tragödie. „Das, was wir uns in 1000 Jahren erarbeitet haben, war zu einem bedeutenden Teil verloren.“

    Lenin habe eben Fehler gemacht, ohne an die Zukunft zu denken, sagt er im Fernsehen. Die Bolschewiki hätten sich dann mit allen Mitteln an der Macht halten wollen, deshalb dieser „Wahnsinn“, der so viele Nationalisten in der heutigen Ukraine gebäre. Was das alles miteinander zu tun hat, versteht selbst in Russland niemand so recht. Aber Putin fährt fort mit seinem merk- wie denkwürdigen Exkurs, spricht einmal mehr von einem „Genozid“ an der russischsprachigen Bevölkerung, den die Ukraine begehe. Das ist Putins gern gebrauchter Begriff, um zu zeigen, wie schlimm es um die Ukraine angeblich stehe und wie gut es sei, dass sie Russland als Nachbarn habe.

    Es ist eine verkehrte Welt. Eine, die allerdings bei vielen Russen und Russinnen greift. Die staatliche Propaganda tut seit Jahren Enormes, um die Bedrohung durch die Nato, die in Putins Augen auch Kiew mitträgt, zur realen Angst der Menschen zu machen.

    Wladimir Putin spricht im nationalen Sicherheitsrat.
    Wladimir Putin spricht im nationalen Sicherheitsrat. Foto: Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

    Putins „Geschichtsstunde“ am Montag geht eine ebenfalls bizarre Sitzung des nationalen Sicherheitsrates voraus. Sie wird als live verkauft, die Uhr des russischen Verteidigungsministers Sergej Schojgu zeigt allerdings fünf Stunden vorher an. Die Mitglieder des Rates flehen Putin geradezu an, die „Volksrepubliken“ anzuerkennen. Äußerst peinlich: Sergej Naryschkin, seines Zeichens Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, einer der engsten Berater Putins. Er stockt, er weiß nicht recht, was er sagen soll, ähm, hmm, ja. Er verspricht sich und sagt gar den Satz, dass er sich für den Anschluss des Donbass an Russland ausspreche. Putin lächelt, Putin herrscht ihn an: „Darum geht es nicht. Setzen Sie sich!“ Der Oberlehrer weiß ohnehin alles besser.

    Vorerst geht es in der Tat nicht „darum“, die Rede Putins legt allerdings nahe, dass die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine lediglich die Vorstufe zum Anschluss sein dürfte. Es war bereits bei der Schwarzmeerinsel Krim 2014 ähnlich.

    „Warum macht man aus uns einen Feind?“, fragt Putin – und antwortet sogleich selbst: „Sie brauchen solch ein großes und selbstständiges Land wie uns nicht.“ „Sie“, das ist der Westen, Putins offensichtliches Trauma. Ein Trauma, das die russische Führung stets beleidigt auftreten lässt. In dieser Rolle des „Obischenny“ – der Begriff des „Gekränkten“ ist ein sehr russischer, täglich gebraucht für jegliche auch noch kleinste Kritik an einem selbst – fährt Putin mit der Anklage seines Lieblingsfeindes fort. „Das treibt Amerika an. Ihr einziges Ziel ist es, uns zu bezwingen.“ Es ist gespenstisch. Und es ist Putins Prolog zu einem Krieg.

    Alle Informationen zur Eskalation im Ukraine-Konflikt erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog.

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