Wenige Jahre ist es her, da brachte Wolodymyr Selenskyj die Ukrainer als Fernsehclown zum Lachen. Wenige Tage ist es her, da schien er noch nicht einmal die Warnungen des US-Präsidenten ernst zu nehmen, der vor einem russischen Angriff warnte. Joe Biden solle sich beruhigen, er glaube nicht, „dass wir uns auf der Titanic befinden“, sagte er flapsig. Doch nachdem der russische Angriff auf sein Land begonnen hat, findet der 44-Jährige klare Worte. „Wir müssen die Ukraine retten, die demokratische Welt retten. Und wir werden das tun.“
Ob das gelingen kann angesichts der russischen Übermacht, ist fraglich. Sicher ist nur: Für den Juristen, der nach dem Studium eine Karriere als Kabarettist einschlug, wird es bitterernst. In einem dramatischen Appell ruft er seine Landsleute am Donnerstag zur Verteidigung auf: „Wir geben Waffen an alle, die fähig sind, uns zu beschützen.“ Die Ukrainer sollten zudem Blut für die Soldaten spenden. Dann wechselt er von der ukrainischen in die russische Sprache, wendet sich an die Bürger Russlands: „Wollen die Russen Krieg? Die Antwort hängt nur von Ihnen ab, den Bürgern der Russischen Föderation.“
Berühmt geworden ist der Präsident der Ukraine durch eine Tanzshow
Selenskyj verkörpert die ganze Vielschichtigkeit der Ukraine: Der Sohn eines Wissenschaftlerpaares jüdischer Herkunft aus der Industriestadt Krywyj Rih im Osten der damals noch sowjetischen Ukraine tourt nach dem Studium ab 1997 durch die Nachfolgestaaten des mittlerweile zerfallenen Riesenreichs. In der Ukraine wird er 2006 zur Berühmtheit, als er an einer populären Fernseh-Tanzshow teilnimmt. Schließlich mimt er in der Comedyserie „Diener des Volkes“ den Geschichtslehrer Wassili Goloborodko, der sich plötzlich im Präsidentenamt wiederfindet.
Bei Selenskyj vermischen sich Realität und Fiktion
Dort nimmt er unbeholfen, aber sehr humorvoll den Kampf mit einer korrupten Machtelite auf. Die Serie trifft den Nerv der Ukrainer, weil ihr wirtschaftlich zerrüttetes Land seit Jahren unter den Ränkespielen konkurrierender Oligarchen leidet. Selenskyj nimmt die Mächtigen immer wieder satirisch deftig aufs Korn, wird so mehr und mehr selbst zur politischen Figur.
Schließlich vermischen sich Realität und Fiktion komplett. Der populäre Präsidentendarsteller tritt bei den Wahlen selbst an – und gewinnt. Der Name seiner Partei: „Diener des Volkes“, benannt nach der TV-Serie.
Von Anfang an argwöhnisch beäugt vom großen Nachbarn Russland, steuert er die Ukraine auf einen liberalen, weltoffenen, pro-westlichen und europafreundlichen Kurs. Als Ziel gibt Selenskyj den Beitritt der Ukrainer zur Nato aus. Russland empfindet ihn zunehmend als Gefahr, auch weil er durchaus Anhänger unter den russischsprachigen Ukrainern hat. Unumstritten im Land ist Selenskyj keineswegs. In der Stunde der Not allerdings scheinen sich die Ukrainer hinter dem Präsidenten zu versammeln, der einst als Präsidentendarsteller begann.
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