"Die Zeit ist gekommen, Aufschub unmöglich." Walentina Matwijenko, die Vorsitzende des Föderationsrates, drängt. Wie alle anderen in Russlands Sicherheitsrat, die sich wie Schulkinder im Katharinensaal des Kremls versammelt haben, um Wladimir Putin, ihren Präsidenten, zu bitten. Zu flehen gar. Er belehrt sie, zwingt sie zum Hinsetzen – und er unterschreibt schließlich das Dekret: die Anerkennung der selbsternannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk. Damit ist das Minsker Abkommen, auf das Putin in den vergangenen Wochen gepocht hatte, gescheitert.
Die Schuld daran gibt der Kreml Kiew – samt den USA und Europa, die in den Augen Putins nicht genug auf die Ukraine eingewirkt hätten. Was die Anerkennung nun bedeutet, die am Dienstag auch durchs russische Parlament durchgepeitscht werden dürfte, ist nicht ganz klar. Erkennt Russland die "Volksrepubliken" in den jetzt bestehenden Grenzen an oder will es die gesamten Regionen Donezk und Luhansk als unabhängig sehen? Damit wären auch Gebiete betroffen, die von Kiew kontrolliert werden. An der russischen Grenze zur Ukraine sind am Abend Militärfahrzeuge gesichtet werden. Putin ordnete noch am Montag die Entsendung von Truppen in den Osten der Ukraine an. Wie wird Kiew reagieren? Und der gesamte Westen auf Russlands Dreistigkeit?
Die Inszenierung begann bereits am Wochenende. Menschen aus den "Volksrepubliken" wurden mit Bussen nach Russland gekarrt. Sie seien vor den Bomben der Ukrainer geflohen, erzählten sie. Ihr Narrativ ist das völlige Gegenteil von den Erkenntnissen des Westens: Amerika sei böse, Amerika wolle Russland in die Knie zwingen, die Ukraine sei ein Instrument dafür. Eine Wiedergabe der russischen Propaganda.
Ukraine-Konflikt: Zehntausende fliehen aus den Rebellen-Gebieten in der Ostukraine
Seit der Videobotschaft des Donezker "Oberhaupts" Denis Puschilin, eines vierschrötigen 40-Jährigen, in der er Frauen, Kinder und ältere Menschen dazu aufruft, sich zur Evakuierung nach Russland bereit zu machen, während Männer zwischen 18 und 55 ihre "heilige Schuld" begleichen sollten, um "das Vaterland zu verteidigen", berichten Beobachter aus dem Donbass von kilometerlangen Schlangen an den Grenzübergängen. In den südwestrussischen Städten Rostow am Don und Taganrog müssen auch Studenten aus ihren Studentenwohnheimen weichen, um den ankommenden Menschen Platz zu machen, die nicht in Hotels oder Zelten an der Grenze untergekommen sind. Wie viele Menschen aus Donezk und Luhansk nach Russland eingereist sind, wird offiziell nicht bekanntgegeben.
Einige Regionen in Westrussland haben den Notfall ausgerufen."Seit Puschilins Aufruf herrscht hier Panik", berichtet eine junge Frau in Donezk, die aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden will. Die Menschen seien vollkommen unsicher und angespannt. "Sie wissen nicht recht, was sie machen sollen. Sie stehen weinend am Bahnhof und verabschieden sich von ihren Verwandten, sie bekräftigen ihre Männer und Söhne, ihre Pflicht zum Vaterland zu erfüllen, sie suchen wieder Bunker auf, kaufen Buchweizen, Konserven und Klopapier auf. Vor den Geldautomaten und Tankstellen bilden sich lange Schlangen", sagt sie am Telefon.
Jede Nacht höre man selbst im Zentrum von Donezk Geschosse, so laut, wie seit Jahren nicht mehr. Es sei nicht klar, vom wem diese kämen. "Manche sagen, von den Ukrainern, andere meinen, von den hiesigen Militärs selbst. Die Lage ist unübersichtlich, die Stadt leert sich." Derweil drängt der Westen den Kreml an den Verhandlungstisch, um die sich weiter zuspitzende Lage an der russisch-ukrainischen Grenze diplomatisch zu lösen. Vergebens.
Ukraine-Konflikt: So funktioniert Putins Spiel
Putin spielt weiterhin mit den Ängsten des Westens, signalisiert Entspannung, um danach umso schärfer seine Forderungen nach den Sicherheitsgarantien an den Westen zu stellen. Interessant dabei ist ein Blick in die Bücher des britischen Autors Rudyard Kipling. Putin erzählt immer wieder von seiner Begeisterung für den "Meister des Imperialismus" und zitiert bei seinen Auftritten gern daraus. Durch Kiplings Roman "Kim" fand der Begriff "Great Game", der den historischen Konflikt zwischen Großbritannien und Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien beschreibt, erst größere Verbreitung. Ob das, was Russland mit seinen Plänen nach einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa fordert, ein New Great Game sei, fragen sich russische wie internationale Politologen seit Jahren.
Die jüngste Operation in der Ostukraine, so belegen es Metadaten von Puschilins Videobotschaft, trägt offenbar den Namen "Der Wurf des Mungos". Kiplings Mungo Rikki-Tikki-Tavi aus dem "Dschungelbuch" gilt als Beschützer der Menschheit. Der Angriff dieses Raubtieres funktioniert folgendermaßen: Es versucht, sich mit falschen Attacken der Vorhersehbarkeit der Reaktion einer Schlange bewusst zu sein, die Schlange mit solchen Finten mürbe zu machen – und sie dann mit einem echten Angriff niederzustrecken. Das Spiel mit den Nerven betreibt auch Putin.
Wie reagiert die EU auf die Provokation aus Russland?
Auch das "Dschungelbuch" zieht Putin hervor, wenn er seinen Gegner lächerlich machen will. Die USA setzte er schon einmal mit Shere Khan, dem Tiger, gleich, um den die Hyänen (Europa in Putins Verständnis) scharwenzelten und ihm nach dem Mund sprächen.
Während man in Brüssel zunächst zum Ärger der Ukraine noch versucht hatte, die Nerven zu bewahren – ist es am Montagabend vorbei mit der Zurückhaltung. Die EU wird auf Russlands Entscheidung mit Sanktionen reagieren. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel verurteilen das Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf das Schärfste.
Welche Sanktionen nun verhängt werden, bleibt zunächst offen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hatte bereits zuvor darauf hingewiesen, dass ein Sanktionspaket mit verschiedenen Komponenten vorbereitet werde. Dies könne in Abhängigkeit vom Ausmaß der jeweiligen russischen Aggression in Kraft gesetzt werden, erklärte der Spanier. Nach früheren Angaben von der Leyens umfasst das Paket der EU Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Personen sowie finanzielle und wirtschaftliche Sanktionen. So könnten Ausfuhrverbote für wichtige High-Tech-Komponenten erlassen werden und Russlands Zugang zu internationalen Finanzmärkten behindert werden.