Der Synthetik-Club kommt unvermittelt. Nein, nicht ganz. Lautes Schnaufen kündigt ihn an. Das Klatschen von Boxhandschuhen gegen einen Sandsack. Ein Mann steht in dem Waldstreifen mit kurzer, himmelblauer Hose, Chucks an den Füßen samt Muskelberg auf den Knochen und hämmert gegen den Sack.
„Nenn mich Waldemar“, sagt der Ukrainer grinsend zum deutschen Journalisten. Wohl wissend, dass der vermutlich schon ein halbes Dutzend Kameraden mit seinem echten Vornamen Vladimir getroffen hat. Waldemars Kameraden schieben in den Schützengräben keine 15 Meter oberhalb des Synthetik-Clubs ihren Dienst. In Flecktarn, mit Kalaschnikow, Helm, kugelsicherer Weste und ab und an einem Maschinengewehr im Unterstand. Der Graben schlängelt sich zwischen den Bäumen hindurch. Davor ist flaches Grün, 200 Meter weiter dann der nächste Waldstreifen, in dem die Separatisten ihren Graben in den Boden gehackt haben. Keine zwei Kilometer sind es zu den Vororten von Horliwka. Die Stadt hält der Feind.
Stellungskrieg in der Ostukraine: Im Donbass wird fast jeden Tag geschossen
Gräben und Stellungen ziehen sich hin. Eine 400 Kilometer lange Trennlinie ist so entstanden für Menschen und Familien, die sich quer durch den Donbass frisst. Entlang halbzerstörter Dörfer und verlassener Häuser. Offiziell heißt die Front „Kontaktlinie“.
Das Wort „Kontakt“ trügt. Menschen begegnen sich hier nicht. Im Gegenteil, parallel ziehen sich Schützengräben und Stellungen durch den Osten der Ukraine. Gräben, Erdbunker, Maschinengewehrnester: Es sind Bilder eines Stellungskriegs, und es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo entlang der Frontlinie geschossen wird. Seit sieben Jahren wird hier nun schon gekämpft. Mit 13.000 Toten beziffern die Vereinten Nationen die Opferzahl. Den ukrainischen Streitkräften stehen Separatisten der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk gegenüber. Die wiederum gelten als verlängerter Arm des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Russland unterstützt die Separatisten mit Geld, Waffen, Söldnern und eigenen Truppen. Das militärische Engagement Russlands im Donbass gilt als Antwort auf die Westorientierung des demokratischen Nachbarlands Ukraine, das sowohl der Europäischen Union als auch der Nato beitreten will. Der Krieg im Osten soll die Ukraine destabilisieren, so das Kalkül.
Unterhalb des Synthetik-Clubs, weniger als zehn Meter entfernt, rauscht das Wasser durch eine mächtige graue Pipeline mit braunen Sprenkeln. Einschusslöcher, die zugeschweißt wurden. Nicht zuletzt wegen dieses riesigen Rohrs dürfte der Synthetik-Club ein halbwegs sicherer Trainingsort sein. Denn die Separatisten feuern keine Mörsergranaten in Richtung des mächtigen Wasserrohrs. Ein Treffer würde die Wasserzufuhr in die von ihnen selbst proklamierte Volksrepublik Donezk erheblich beeinträchtigen. „Also geht bei ihnen nicht mehr als das Maschinengewehr und die Kalaschnikow“, sagt Waldemar, der Boxer im Wald.
Waldemar öffnet ein Fitness-Studio: "Painkiller" nennen ihn die Soldaten im Donbass
Seine Kameraden sind für das Fitness-Studio am Schützengraben dankbar. Fit zu sein ist an der Front überlebenswichtig. Und Sport bringt Abwechslung in den tristen Alltag der Soldaten. Sie haben Waldemar den Spitznamen „Painkiller“ verpasst, Schmerztöter.
Es ist nicht zu übersehen, dass er ein wenig stolz darauf ist. Die Geräte für das Fitness-Studio unter den Bäumen hat er selbst zusammengetragen und zusammengezimmert. Zwischen Ästen hängt das Gestell eines Barhockers für Klimmzüge. Eine weitere Stange zwischen Bäumen bietet den gleichen Service. Es gibt jede Menge Hanteln und Springseile. Das Kernstück ist der mächtige weiße Boxsack, über dem ein Schild kundtut: „Synthetik-Club“ – und ganz klein im Eck steht „von Painkiller“.
„Der Club hilft Stress abzubauen“, erklärt Soldat Waldemar und streift die Handschuhe ab. Jeder, der hier im Wald die Stellung hält, dem sind schon Kugeln um die Ohren geflogen. Viel zu viele, die schon einen Freund verloren haben. Von Sommer 2020 an hielt der Waffenstillstand zwischen der ukrainischen Armee und den von Russland unterstützten Separatisten immerhin ein paar Monate.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi hat die friedliche Beendigung des Kriegs als klares Ziel schon im Wahlkampf ausgegeben, setzte auf Verhandlungen und auf in der Gesellschaft sowie in Militärkreisen umstrittene Zugeständnisse. Dann begann die Ruhe an der Front ab Anfang 2021 wieder zunehmend brüchig zu werden. Der Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine heizte die Kämpfe im Donbass weiter an. Kaum eine Woche, in der nun die ukrainische Armee im Wochenbericht keine neuen Gefallenen und Verwundeten meldet.
Alltag an der Front in der Ostukraine: Sie schossen auf ihn wie auf einen Hasen
„Stress“ hatte und hat auch Waldemar zur Genüge. Als er zum Beispiel einmal zu weit von seinen eigenen Leuten entfernt und zu nah an den Feind geraten war. „Sie schossen auf mich wie auf einen Hasen“, sagt Waldemar. Zuerst kroch er in Richtung seiner Stellung, dann stand er auf, schlug Haken und rannte um sein Leben.
Der 49-Jährige erzählt ein Kapitel jüngster ukrainischer Geschichte aus eigener Erfahrung. „Mein Heimatort ist heute besetzt von den Separatisten, Söldnern und russischen Truppen“, sagt er. Waldemar ist ein Mensch, der an die junge Ukraine glaubt und der gerne sagt, was er denkt. Bei den Separatisten ist er mit beiden Eigenschaften an der falschen Adresse.
So floh er mit seinen beiden Kindern in den Oblast Iwano-Frankiwsk, in den äußersten Westen der Ukraine. Zurück blieb seine kleine Firma für Metallhandel, sein Lebensunterhalt. „Ich hab eine Zeit lang in Riga gearbeitet, um genug Geld für meine Familie zu verdienen. Aber sobald meine Kinder groß genug waren, wollte ich zur ukrainischen Armee. Das bin ich meiner Heimat schuldig“, erklärt er. 2018 verpflichtete er sich, da waren seine Tochter 16 und der Sohn 19.
Im Graben gilt er als Neuling, gleichaltrige Soldaten kämpfen meist seit 2014, als der Krieg begann. „Keiner hätte sich vorgestellt, dass das passieren kann. Ein Krieg! In Donezk fanden 2012 Fußballspiele der Europameisterschaft statt. Ohne Putins Geheimdienst, Waffen und Militär wäre es auch nie so weit gekommen“, meint der boxende Soldat. Und jetzt? Der Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze? „Ein Muskelspiel. Aber nicht nur. Zu viele russische Soldaten sind in Grenznähe geblieben und eine militärische Infrastruktur ist nun aufgebaut. Vergesst das nicht in Europa“, sagt er.
Eines könne er in Bezug auf die Russen versprechen, meint er dann augenzwinkernd: „Keiner von ihnen wird Mitglied im Synthetik-Club.“ Dann fügt er ernst hinzu: „Selbst wenn wir eines Tages Frieden bekommen, die Wunden sind tief. Es wird lange dauern, bis sie heilen. Die Menschen in den besetzten Gebieten kennen nur noch die prorussische Propaganda. Da wird viel Überzeugungsarbeit notwendig sein. Aber ich befürchte, der Krieg geht noch Jahre so weiter“, sagt der Mann, der aus dem Oblast Donezk stammt und dessen Heimatort für ihn gerade so unerreichbar scheint wie ein anderer Planet, auch wenn er keine 30 Minuten mit dem Auto entfernt liegt.
Krieg im Donbass: Fast nur Ältere sind in der Ostukraine geblieben
Waldemar will weiter trainieren, greift nach den Handschuhen und verrät das Geheimnis des Namens Synthetik-Club. „Mit 49 braucht es das eine oder andere Hilfsmittel, um die Muskeln so zu halten“, erklärt er grinsend.
Zum Einbruch der Nacht wird seine Schicht im Graben beginnen. Waldemar trägt dann Camouflage, Helm und Schutzweste und hält seine Kalaschnikow schussbereit. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er sie nutzen wird. 15 Meter entfernt vom Synthetik-Club. Nach ein paar Stunden Schlaf im Erdbunker wird er morgen dort am Nachmittag wieder trainieren. Wenn nachts alles gut ging.
Sechs Kilometer nördlich im Dorf Saizewe sagt Zivilist Iwan, dass der Wahnsinn des Kriegs mittlerweile schon irgendwie „normal“ geworden sei. „Haben Sie gestern die Granaten gehört? Zehn Minuten lang. Buuumm. Bumm. Bumm.“ Der 67-Jährige passiert zwei Ruinen, deren Wände Granateneinschläge bersten ließen. Zu Beginn des Krieges war der Ort heftig umkämpft. Jetzt sind es keine 1,5 Kilometer zur Front. Iwan holt Trockenfisch, ein Freund hat zum Bier eingeladen, und so geht es zum Dorfladen. Oder besser: zu einem kleinen Stand an einer mit Pfützen übersäten Dorfstraße. „Nur wenige halten es hier noch aus“, sagt Igor. Zwei Häuser hatte sich der Bauarbeiter aufgebaut. Eines ist nur noch ein Trümmerhaufen. „Aber da ist ja noch das andere“, sagt der Rentner und lächelt.
Vom Roten Kreuz bekommt der alte Mann Holz und Kohle. Die oberirdischen Gasleitungen sind vielerorts durchlöchert wie Siebe. „Aber es muss ja weitergehen, irgendwie“, meint er. Zwei Kinder hat er auf der Separatisten-Seite. Manchmal konnte er sie trotz des Krieges mit dem Rad besuchen. „Es ist ja nicht weit. Und ein alter Mann braucht nicht lang im Checkpoint.“ Dann sei es immer schwieriger geworden, erzählt er. Schließlich kam Corona, und jetzt flammen die Kämpfe wieder auf. „Herrgott, ich kann gar nicht sagen, wie viele Jahre ich nun meine Kinder nicht gesehen habe. Dabei fehlen sie mir so sehr.“ Der alte Mann schüttelt den Kopf. Er weiß genau, dass ein Krieg eben doch nie Normalität bedeuten kann.
Lesen Sie dazu auch:
- Ukraine-Konflikt: Merkel, Macron und Selenskyj fordern Truppenabbau
- Aufmarsch an der Grenze: Wie Russland die Ukraine destabilisiert