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Ukraine-Konflikt: Es riecht nach Krieg: Unser Reporter berichtet aus der Ukraine

Ukraine-Konflikt

Es riecht nach Krieg: Unser Reporter berichtet aus der Ukraine

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    Geschossen wird ständig an der ukrainisch-russischen Grenze. Unser Bild zeigt einen Soldaten in einem Graben. Ein paar Kilometer weiter in Mariupol schweigen seit einigen Jahren die Waffen. Wie lange das dort noch so bleiben wird, ist unsicherer denn je.
    Geschossen wird ständig an der ukrainisch-russischen Grenze. Unser Bild zeigt einen Soldaten in einem Graben. Ein paar Kilometer weiter in Mariupol schweigen seit einigen Jahren die Waffen. Wie lange das dort noch so bleiben wird, ist unsicherer denn je. Foto: Alexei Alexandrov, dpa

    Das Asowsche Meer liegt wie ein Riegel aus Blei vor dem grauen Himmel. Die Oberfläche der See kräuselt sich im eisigen Wind. Wellen schwappen an den Strand von Berdyans‘ke. Die Katzen des Dorfs bevölkern die Sandpiste, die durch den Ort zwanzig Kilometer östlich von Mariupol führt. Sie liegen träge in den Hauseinfahrten oder tappen unbeeindruckt über den Sand. Unverputztes Mauerwerk, Pappe statt Glas in Fensterhöhlen, das Dorf gleicht einer verlassenen Baustelle. Leben in

    Hinter einem aufgebockten VW-Bus taucht unvermittelt ein Paar Arbeitsstiefel auf. In ihnen steckt ein Mann, der auf Knien den Rost an der Achse eines Kleinbusses untersucht. Der junge Mann, weit und breit die einzige Spur menschlichen Lebens, nennt sich Wanja. Er ist bereit für einen Schwatz während einer Zigarettenpause.

    Eigentlich sei er Fischer wie alle Männer in Berdyans‘ke, erzählt Wanja. Als der Krieg in der Ostukraine 2014 begann, habe die ukrainische Marine begonnen, Seeminen vor der Küste zu verlegen. Die Armee untersagte das Fischen. „Ich habe Glück gehabt und einen Job als Fahrer gefunden“, sagt er. Andere Männer aus dem Ort würden trotz des Verbots aufs Meer fahren und hoffen, dass sich in ihren Netzen keine Mine verfängt. Das passiere ab und zu und es habe dabei Tote gegeben, erzählt Wanja.

    Mehr als die Minen im Meer scheint ihn aber etwas anderes aufzuregen. Als ein gepanzertes Fahrzeug der Ukrainer an ihm und seinem Bus vorbeifährt, zischt er: „Die sollen verschwinden.“ Wanja zeigt auf das Ende der Sandpiste. Dort liegt die letzte Stellung der ukrainischen Armee. Dahinter beginnt das Territorium der Separatisten.

    Wanja erzählt, in seinem Dorf werde schon seit acht Jahren geschossen

    Wanja schraubt an seinem in die Jahre gekommenen VW-Bus einige Dutzend Meter von der Frontlinie zwischen der Ukraine und den pro-russischen Separatisten herum, auf die alle Welt gerade ihre Aufmerksamkeit richtet. Zu den Nachrichten über einen drohenden Krieg fällt ihm nicht viel ein. Es werde schon seit acht Jahren in seinem Dorf geschossen, sagt er. „Mal ist es mehr, mal weniger“, meint Wanja. Er klingt, als spräche er von einer Laune des Wetters.

    Die vielen Soldaten machten es den Fischern aus Berdyans‘ke jetzt noch schwerer, heimlich aufs Meer zu fahren. Und mit Fischfang ließen sich ohnehin nur 100 Hrywnja am Tag verdienen, umgerechnet drei Euro. Da zähle jeder Tag auf See, Minen hin, Kriegsgefahr her. Warum steigt Wanja nicht in seinen VW-Bus und fährt so weit weg vom elenden Leben an der Frontlinie, wie ihn die rostigen Achsen seines Busses tragen können? „Ich habe nicht genug Geld, um irgendwo anders hinzugehen“, sagt er.

    Das Gespräch endet, als Wanjas Mutter im gegenüberliegenden Haus zu keifen beginnt. Sie verspricht, handgreiflich zu werden, wenn die ungebetenen Gäste nicht endlich verschwinden. „Meine Mutter hat Angst, dass der Geheimdienst mich holt, wenn ich mit Fremden rede“, sagt Wanja. Die Frau taucht schließlich mit roten Zornesflecken auf den Wangen im Morgenmantel auf. Sie verflucht die Ukraine, die nie etwas für sie und ihre Familie getan habe. Es ist Zeit, aufzubrechen.

    Ein ukrainischer Soldat steht an der Trennlinie zu pro-russischen Rebellen in der Region Donezk.
    Ein ukrainischer Soldat steht an der Trennlinie zu pro-russischen Rebellen in der Region Donezk. Foto: Andriy Dubchak, dpa

    Die Fahrt ruckelt über Erdpisten einer geteerten Landstraße entgegen. Östlich von Berdyans‘ke liegen die Trümmer des früheren Ferienorts Schyrokyne, westlich die noch bewohnten, aber menschenleer wirkenden Ortschaften Sopyne und Pioners‘ke mit ihren von Granaten durchlöcherten Fassaden. Dann tauchen schon die Schlote und Plattenbauten der Hafenstadt Mariupol auf. Ukrainische Soldaten kontrollieren Papiere und filzen den Kofferraum an einem Checkpoint vor der Stadt. So wollen sie sicherstellen, dass keine Waffen aus den Dörfern nach Mariupol gelangen.

    In der Luft liegt der Gestank von offenen Giftmüllfässern

    Dunst liegt über der Hafenstadt. Es ist keine Nebelbank, die sich vom Asowschen Meer herangewälzt hat und nun über dem Küstenort mit seinen 440.000 Einwohnern liegt. Rauch quillt weiß, grau und schwarz aus den Kaminen der Stahlfabriken Asow-Stahl und Illjitsch. Die Ungeheuer mit ihren Schloten, Pumpen und Röhren im Zentrum gehören beide zum Stahlimperium Metinvest des Oligarchen Rinat Achmetow. Es riecht in Mariupol nicht nach Salz und See. Es stinkt je nach Windrichtung nach offenen Giftmüllfässern. Die Menschen in Mariupol munkeln von einem „kleinen Tschernobyl“, sollten Raketen jemals die Tanks mit ätzenden und giftigen Flüssigkeiten in den Fabriken treffen.

    Mariupol und Metinvest, das ist für manche ein und dasselbe. Der Unternehmer und Oligarch Rinat Achmetow stieg als Sohn eines Donezker Bergmanns in den 90er Jahren nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 zu sagenhaftem Reichtum auf und gründete das Stahlimperium. Das Herzstück sind die beiden ehemaligen sowjetischen Metall-Kombinate in Mariupol.

    Als die Separatisten im Mai 2014 Mariupol einnahmen, hielt sich Achmetow zunächst bedeckt. Zwei Monate später eroberte die ukrainische Armee die Stadt zurück. Rinat Achmetow drückte nach dem Sieg der Ukrainer seinen Stahlarbeitern Waffen in die Hand und gab ihnen den Auftrag, künftig gemeinsam mit den einrückenden Soldaten der Ukraine die Separatisten fernzuhalten. Er äußerte sein Entsetzen über die „Rechtlosigkeit“ unter den pro-russischen Kämpfern, die auch seine Fabriken als ihr Eigentum betrachteten. Raketen trafen im Januar 2015 den Kiew-Markt in Mariupol im Osten der Stadt und umliegende Wohnhäuser. Sie rissen 30 Menschen in den Tod.

    Seitdem schweigen die Waffen in Mariupol. Nur der Wind trägt manchmal das Donnern der Geschütze von der Front hinter Berdyans’ke und bei Schyrokyne in die Stadt. Eine Erinnerung, dass der Krieg immer noch in der Nähe ist.

    Mariupol ist von großer strategischer Bedeutung für die Ukraine

    Mariupol liegt auf halber Strecke zwischen der von Russland annektierten Halbinsel Krim und den von den Separatisten kontrollierten Teilen des Donezbeckens um die Großstädte Donezk und Luhansk. Noch hat die Ukraine mit Mariupol einen Hafen am Asowschen Meer und eine Basis, von der ihre Truppen die Küstenlinie zwischen der

    Valery Aweryanow ist ein pro-ukrainischer Aktivist.
    Valery Aweryanow ist ein pro-ukrainischer Aktivist. Foto: Cedric Rehmann

    Valery Aweryanow erscheint im Tarnanzug in der Kneipe „Bier-Keller“ im Zentrum von Mariupol. Der pro-ukrainische Aktivist der Gruppe „Nein zur Kapitulation“ bestellt sich einen Saft, während er seine für die Ukraine düstere Sicht auf die Stimmung in der Bevölkerung schildert. „Ein Drittel sitzt auf dem Sofa und will seine Ruhe haben. Vielleicht zehn Prozent sind proukrainisch. Mehr als 50 Prozent sind für Russland“, sagt er.

    Aweryanow holt zu einer Geschichtsstunde aus. Die Industrialisierung des Donbass mit seinen Kohlegruben und Stahlfabriken habe Ende des 19. Jahrhunderts Menschen aus dem ganzen Zarenreich angezogen. „Deshalb leben heute so viele Russen hier und fast alle sprechen Russisch“, meint der Aktivist. Der Sowjetunion waren Kohl und Stahl für ihre Industrialisierungspläne wichtig. Also sei es den Metallarbeitern in Mariupol in der UdSSR besser gegangen als den Menschen im landwirtschaftlich geprägten Westen der Ukraine. Die Zeit vor dem Zerfall der

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beschuldigte den Stahlmagnaten im Dezember, einen Staatsstreich gegen ihn zu planen und dabei mit Russland zusammenzuarbeiten. Achmetow und Selenskyj streiten sich über ein im September 2021 verabschiedetes Oligarchengesetz. Es soll den Einfluss der Superreichen etwa auf die Medien in der Ukraine beschränken. Achmetow empfand das Gesetz als gegen ihn gerichtete Kriegserklärung. Ausgerechnet ein Erzfeind des Präsidenten beherrscht nun die Stadt, die für die Ukraine strategisch wichtig ist.

    Noch hat die ukrainische Armee die Lage in der Stadt unter Kontrolle

    Valery Aweryanow hat seinen Saft schnell ausgetrunken. Dafür, dass er sich von Feinden umzingelt fühlt, spricht er in einer Kneipe ziemlich laut und deutlich. Armee und Geheimdienst hätten die Lage in Mariupol unter Kontrolle, meint er. Sollten die Russen dagegen die Stadt übernehmen, stünde er wohl ganz oben auf deren Verhaftungsliste, meint er. Sorgen bereite ihm das nicht. „Wir haben uns sieben Jahre lang darauf vorbereitet, in dieser Stadt im Untergrund zu verschwinden“, sagt er. Was unterscheidet ihn eigentlich von seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, denen er so offen misstraut? „Ich spreche hier wie fast alle Russisch und habe früher auch geglaubt, dass alle Slawen Brüder sind. Aber wenn dein Bruder dir in den Rücken sticht, dann ist es mit der Liebe vorbei“, sagt er.

    Die Künstlerinnen Faith Protsky (links) und Diana Berg.
    Die Künstlerinnen Faith Protsky (links) und Diana Berg. Foto: Cedric Rehman

    In der Stadt, die angeblich in der Sowjetunion stehen geblieben ist, gibt es schon seit einigen Jahren mit der „Platform To“ an der Straße Mytropolytska einen offenen Raum für alternative und queere Kunst. Diana Berg und Faith Protsky erklären, warum ihnen Stereotype über ihre Stadt und den Osten der Ukraine nicht gefallen. Nicht jeder Arbeiter in den Stahlfabriken sei pro-russisch, nicht jeder und jede mit Universitätsdiplom für die Ukraine. Und nicht alle, die die Ukraine unterstützen, seien aufgeklärt und fortschrittlich. „Wir haben auch Probleme mit den ukrainischen Nationalisten. Idioten gibt es da auch“, meint Berg.

    Und doch macht sie aus ihrer proukrainischen Haltung keinen Hehl. Nach dem Abzug der Separatisten habe sich die Stadt zum Besseren verändert. Die Kommune hatte in der nach der Maidan-Revolution 2014 dezentralisierten Ukraine mehr Geld in der Tasche, um das triste Stadtbild zu verändern. Vielleicht floss auch zusätzlich Budget in die Frontstadt als Werbung für Kiew. „Die Ukraine ist auf jeden Fall viel sichtbarer geworden für die Menschen“, sagt Berg. Protsky und Berg sind überzeugt, dass die Sowjet-Nostalgie dem Realitätstest auf Dauer nicht standhalten würde. Doch der Krieg läge wie Mehltau auf der gesellschaftlichen Entwicklung. Die neuen Freiräume für Künstler, Feministinnen oder sexuelle Minderheiten entwickelten sich erst nach dem Sieg der ukrainischen Armee über die Separatisten.

    Vielleicht verschwinden die Kiewer Truppen aber schon bald aus Mariupol. Was wird dann aus Leuten wie ihnen? „Wenn es schiefgeht, sehen wir uns in irgendeinem europäischen Land wieder“, sagt Faith Protsky. Es soll wie ein Scherz klingen.

    Die ukrainischen Soldaten sollen bereits den Häuserkampf üben

    Die ukrainische Armee ist in Mariupol in diesen Tagen nicht zu übersehen. Militärlaster und gepanzerte Fahrzeuge gehören zum Straßenbild. Ein Sprecher der Streitkräfte will sich keine Zahlen entlocken lassen, wie viele Soldaten derzeit in Mariupol stationiert sind und in welchem Umfang weitere Truppen für die Verteidigung der Stadt mobilisiert werden. Ein interessantes Detail verrät er aber: Die Armee übe derzeit den Häuserkampf. Das Szenario klingt lebensgefährlich für die Zivilbevölkerung.

    Die Wintersonne blinzelt durch die Löcher im Dach über dem Kiew-Markt im Osten von Mariupol. Die Splitter der explodierenden Raketen hatten sie am 25. Januar 2015 in das Wellblech gerissen. Darunter gingen die Menschen in Deckung. Andere wurden vom Geschoss getroffen und lagen in Blutlachen zwischen den Marktständen.

    Es dauert lange, um jemanden zu finden, der über das Unglück reden will oder über die Sorgen vor einer Wiederholung. Eine Wäscheverkäuferin erzählt schließlich, wie sie sich während der Attacke unter einen Container verkroch, während um sie herum Menschen starben. Sie verkaufe seit dem Angriff jeden Tag Unterwäsche auf dem Kiew-Markt. In den ersten Jahren sei sie nach der Schließung der Stände sofort zur Bushaltestelle gerannt, um so schnell wie möglich vom Markt wegzukommen. Sie werde trotz ihrer Ängste weiter ihre Wäsche auf dem Markt verkaufen, wenn die Lage sich weiter zuspitzt. Einfache Menschen wie sie hätten in Mariupol keine andere Wahl.

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