„Wo kommst du her?“ „Aus der Ukraine.“
„Ah, aus Russland!“ „Nein, ich komme aus der Ukraine.“
„Ist doch das Gleiche!“
„Nein, ist es nicht.“
Immer wieder dieser Dialog. Zu meinen ersten Erkenntnissen, die ich in Deutschland in den 1990er Jahren erlangte, gehörte diese: Die Menschen hierzulande haben nur eine vage bis gar keine Vorstellung davon, wo ich aufgewachsen bin. Die zahlreichen US-Bundesstaaten, die klimatischen Verhältnisse in Kanada oder die Strände Australiens – die Deutschen haben oft ein viel detaillierteres Wissen über die sogenannten westlichen Länder als über den größten, rein europäischen, Flächenstaat, der direkt vor den Toren der EU liegt.
Stück für Stück schaffte es die Ukraine durch die aktuelle Berichterstattung doch auf die geistige Landkarte der Menschen in Mitteleuropa. Die Anlässe, die mein Geburtsland auf die Titelseiten der westlichen Medien hievten, waren und sind jedoch tragisch. Nur bei der Orangenen Revolution von 2004, bei der die Ukrainer nach Wahlfälschungen erstmals Woche für Woche auf die Straßen gingen, war es anders. Ansonsten zahlte die Ukraine jedes Mal einen hohen Preis dafür, im Westen wahrgenommen zu werden.
Um die Ukraine geht es oft nur, wenn die Nachrichten schlecht sind
Ich habe das Gefühl, dass man über die Ukraine nur spricht, wenn es dort zu Blutvergießen und territorialen Grenzverletzungen kommt – so bei den Maidan-Protesten von 2013, dem Separatistenkrieg im Donbass und der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 und nun bei den jüngsten Ereignissen in der Ukraine, die mit der Invasion Russlands ihren bisherigen Höhepunkt erreichten.
Nun klingelt auch bei mir und bei vielen anderen Menschen, die Bezug zur Ukraine haben, öfter das Telefon: Wie schätzen wir die Ereignisse in der Ukraine ein? Wie geht es den Menschen dort? Kaum jemand ist dabei, der die Ukraine und Russland als ein zusammengehöriges Land bezeichnet.
Aber immer wieder höre ich die Frage: Ist denn Ukrainisch ein russischer Dialekt? An Fragen wie dieser merke ich: Der westliche Blick auf die Ukraine wird immer noch viel zu sehr durch die Narrative des sowjetischen Kommunismus und des Kalten Krieges geprägt. Es ist die Tragik der Ukrainer: Ihre Eigenständigkeit, inklusive der Sprache, wird ihnen in der Geschichte immer wieder abgesprochen – und sei es aus Unkenntnis.
Ukrainisch ist kein russischer Dialekt. Ukrainisch gehört zwar wie Russisch und Belarussisch zur ostslawischen Sprachgruppe, es ist jedoch eine eigenständige Sprache. Der Unterschied ist größer als zwischen Niederländisch und Deutsch.
"Bei uns in der Gegend galt Ukrainisch als die Sprache der Landbevölkerung"
Meine Muttersprache ist Russisch. Es ist eine postkoloniale Sprache. Ich lernte zwar in der Nähe von Dnepropetrovsk auch Ukrainisch als zweite Sprache in der Schule, doch dieses Fach genoss keinen besonders guten Ruf. Bei uns in der Gegend galt Ukrainisch als die Sprache der Landbevölkerung, die nicht besonders gebildet ist. Dieses Vorurteil zelebrierten die Sowjets in jeder ihrer Republiken mit der dort jeweils vorherrschenden Sprache, auch wenn sie nach außen das Bild des Vielvölkerstaates vermitteln wollten. Wer etwas erreichen wollte, hatte keine andere Wahl als auf Russisch zu setzen.
Es gab keine echte Freiwilligkeit, wie es auch nicht immer eine freiwillige Entscheidung der Republiken war, ihren Platz in der Sowjetunion einzunehmen. Das betrifft auch den Westen der Ukraine, der 1939 in die Sowjetunion eingegliedert wurde.
„Postkolonial“, also aufgezwungen, ob Sprache oder auch Politik, – das würde Wladimir Putin freilich nicht unterschreiben. Er spricht von „Brudervölkern“ oder gar von einem Volk. Und dann weiß der russische Präsident aber doch wieder zu separieren – wenn er seine Handlungen damit zu legitimieren versucht, dass er die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine beschützen muss.
Es gibt unterschiedliche Zahlen dazu, wie viele Menschen in der Ukraine Russisch als Muttersprache sprechen. Manche nennen bis zu 30 Prozent. Auch hier muss man jedoch genauer hinschauen. Nicht jeder, der dazu zählt, ist ethnisch russisch. Ich bin es auch nicht. Oft hatte es eher pragmatische Gründe, warum jemand im Alltag eher auf Russisch setzte. Da im Osten der Ukraine tatsächlich auch jede Menge ethnischer Russen lebten, spielte diese Sprache – im Gegensatz zum Westen der Ukraine – auch im Alltag eine stärkere Rolle als Ukrainisch.
Doch nicht alle ethnischen Russen waren schon immer da in der Ukraine. Ein Großteil von ihnen kam im Zuge der Arbeitsmigration. Die Menschen aus Russland und anderen Republiken der damaligen UdSSR strömten als junge qualifizierte Fachkräfte in die Großstädte wie Donezk, Charkiw oder Dnepropetrowsk, die als Leuchttürme der Wissenschaft, Hochschulbildung und Industrie galten.
Holodomor: Während der Hungersnot in der Ukraine starben Millionen Menschen
Doch auch das ist nur ein Strang der Geschichte. Es gibt noch einen weiteren, von dem Putin nicht gerne spricht – Holodomor. So nennen die Ukrainer die durch Stalin künstlich erzeugte Hungersnot in der Ukraine in den 1930 Jahren. Auch hier gehen die Schätzungen auseinander, aber man spricht von drei bis sieben Millionen Ukrainern, die der Hungersnot zum Opfer fielen. Viele davon in der Ostukraine.
Ganze Landstriche waren menschenleer und wurden dann – auf Anordnung der Sowjetmacht – zum Teil auch durch die Bevölkerung aus Russland besiedelt, so auch in den Donezker und Luhansker Gebieten, auf welchen sich nun die selbsternannten Volksrepubliken befinden.
Es mag viele Gründe geben, warum es ausgerechnet dort zum Separatistenkrieg gekommen ist und nicht etwa im benachbarten Charkiw, in der mindestens genauso viele Menschen Russisch als ihre Muttersprache bezeichnen. Das von Russland geprägte Narrativ „Die russischsprachige Bevölkerung suchte Schutz bei Russland“ kann ich nicht bestätigen.
Der Riss durchs Land geht nicht nur über die Sprache oder die Frage der ethnischen Zugehörigkeit. Es gibt ethnische Russen, die sich als Ukrainer sehen und die Politik Putins verachten. Wie es auch ethnische Ukrainer geben mag, die die Nähe zu Russland preisen. Dabei geht es kaum um Folklore. Es ist eher die Frage der politischen Haltung – und der Einordnung der Landesgeschichte. Wer der Sowjetzeit nachtrauert, denkt eher pro-russisch als jemand, der sich für die Zukunft seines Landes das westeuropäische Modell wünscht.
"Die Ukraine ist keine geschichts- und gesichtslose Pufferzone"
Die Geschichte der Ukraine ist sehr komplex. Es ist kein homogenes Land. Teile waren mal polnisch, mal ungarisch, mal russisch, mal österreichisch. All dieses hat Menschen in diesem Land geprägt – in ihrer Kultur, in ihrer Religiosität, in ihren Sichtweisen. Was jedoch alle Ukrainer eint, ist die Tatsache, dass es stets eine fremd regierte Nation war, deren schwieriges Schicksal sicherlich auch in der schwierigen geopolitischen Lage des Landes liegt.
Übersetzt bedeutet das Wort Ukraine „Am Rande liegend“. So liegt dieses Land tatsächlich am Rande des Westens und am Rande Russlands. Seit acht Jahren herrscht in der Ukraine Krieg, auch wenn die Menschen in Westeuropa Scheu davor haben, es so zu benennen, wie es auch bis jetzt Scheu gab, der Ukraine aus ihrer misslichen Lage zu helfen. Schlimm fanden es alle. Aber einen beherzten Einsatz für dieses Land vermisse ich bis jetzt in der westlichen Politik.
Was dem Westen deutlich werden muss: Die Ukraine ist keine geschichts- und gesichtslose Pufferzone, wie sie manchmal genannt wird. Die Ukraine liegt nicht am Rande. Sie ist mittendrin. Und sie steht für den Anspruch auf Souveränität und Freiheit, die wir in Europa für selbstverständlich halten wollen. So lange, wie nach dem Zerfall der Sowjetunion, war die Ukraine noch nie unabhängig. Nach dem Ersten Weltkrieg haben die Ukrainer versucht, einen eigenen unabhängigen Staat zu gründen. Alle Versuche scheiterten auch daran, dass die Siegermächte die Selbständigkeit der Ukraine nicht unterstützen wollten.
Ella Schindler ist Redakteurin im Verlag Nürnberger Presse. Sie ist in der Ukraine aufgewachsen, mit 16 Jahren kam sie nach Deutschland. Über die Lage in ihrer Heimat spricht Schindler auch in einer Podcast-Folge der Nürnberger Nachrichten.