Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kämpft um seine Macht. Mitte Mai könnte er sie verlieren bei der anstehenden Wahl – nach 20 Jahren. Und dann? Würde der Langzeitpräsident, der die Demokratie geschleift hat, seine Verdrängung aus dem Palast akzeptieren? Kann er das überhaupt, ohne vom Volk für seine Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden? Und wird er deshalb die Wahl manipulieren oder versuchen, mit Gewalt an der Macht zu bleiben?
Erdogan zieht in diesen Tagen alle Register des Wahlkämpfers. Die Inflation frisst am Wohlstand der Mittelschicht. Deshalb Zuckerbrot. Der Präsident kündigt kostenlose Erdgaslieferungen für alle an. Und er schwingt die Peitsche. Der 69-Jährige rückt seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu in die Nähe von Terroristen. In den meisten Umfragen liegt er dennoch hinter Kilicdaroglu.
Derya Türk-Nachbaur: „Da bilden sich heftige Lager“
Die deutsche Bundestagsabgeordnete Derya Türk-Nachbaur (SPD) aus dem Schwarzwald macht sich darüber viele Gedanken in diesen Tagen. Sie hat auch eine Meinung zur großen Frage, wohin ihre zweite Heimat geht. Die 50-Jährige ist Gastarbeiterkind und hat Familie im Süden der Türkei, wo die Erde vor mehr als zwei Monaten so heftig bebte und die Katastrophe zehntausende Opfer forderte.
Doch Türk-Nachbaur kann nicht so frei reden, wie es sonst ihre Art ist. Sie wird als Wahlbeobachterin den Kampf um die Macht begleiten, kontrollieren, dass die Wahl frei und fair abläuft. Ihre Funktion verpflichtet sie zu Neutralität. Und deshalb wägt sie ab. „Am 14. Mai findet in der Türkei eine sehr historische Wahl statt“, sagt Türk-Nachbaur.
Sie will sich nicht ausmalen, was passierte, wenn Erdogan zu Tricks greift und es deshalb zum Aufstand kommt. Die Türkei ist ein Nato-Partner in einem kriegerischen Teil der Welt, vermittelt auch zwischen Russland und der Ukraine. „Da bilden sich wirklich heftige Lager“, erzählt Türk-Nachbaur.
Können alle Türken ihre Stimmen abgeben?
Für seine Kampagne stützt er sich auf das staatliche Fernsehen, das sich zunächst weigerte, die Werbevideos der Opposition zu senden. Zeitungen und TV-Kanäle sind überwiegend im Besitz Erdogan-naher Unternehmer. Die Türken, die Erdogan ablehnen, fragen sich, wie die Wahl in der vom Erdbeben verwüsteten Region im Süden ablaufen wird. Hunderttausende leben in Zeltstädten oder sind irgendwo bei Verwandten und Freunden untergekommen. Wählen müssen sie aber dort, wo sie vor dem Beben gemeldet waren.
Deshalb sollen die Wahlbeobachter in drei Wochen genau hinsehen. Sie sind unterwegs im Auftrag des Europarates. Wegen der Beschränkung der Pressefreiheit und der Willkürjustiz nach dem Putschversuch steht Ankara unter Beobachtung. Sechs Abgeordnete werden es aus Deutschland sein, aus anderen Ländern kommen weitere hinzu. Insgesamt sind es knapp über 40. Einen Parlamentarier der Linkspartei hat Erdogans Partei AKP zur unerwünschten Person erklärt, genau wie eine Volksvertreterin aus der Schweiz.
Die Delegation des Europarates wird angeführt von dem Bundestagsabgeordneten Frank Schwabe (SPD). Der Mann aus dem Ruhrgebiet hat neulich mit einem Interview den Unmut der AKP auf sich gezogen. „Es ist klar, dass diese Wahlen in einem schwierigen Umfeld stattfinden“, bemüht sich Schwabe um Neutralität. Am Wahltag wird er verschiedene Wahllokale besuchen. Er wird sich ansehen, ob genügend Stimmzettel da sind für alle registrierten Wähler. Nach Schließung der Wahllokale wird er den Helfern bei der Auszählung der Stimmen über die Schulter schauen. Alle Auffälligkeiten schreibt er auf Listen. Schwabe hat dann die Aufgabe, aus allen Listen ein Bild zu entwerfen und zu ein Urteil fällen, ob die Wahl frei und fair gewesen ist.