Nichts liebt Recep Tayyip Erdogan so sehr wie Wahlkämpfe. Kaum stand am Sonntagabend sein Sieg bei der Stichwahl um das türkische Präsidentenamt fest, begann der 69-jährige mit dem Wahlkampf für die Kommunalwahlen im kommenden Jahr, bei denen er die Metropole Istanbul für seine Partei AKP zurückgewinnen will. „Mit euch gehen wir zu neuen Siegen“, sagte Erdogan in einer Ansprache vor Anhängern in Istanbul. Dann flog er nach Ankara, wo er später am Abend eine weitere Siegesrede halten wollte.
„Wir haben das Tor zum Jahrhundert der Türkei aufgestoßen“, sagte Erdogan. Der Präsident regiert seit 20 Jahren und prägt die vor hundert Jahren gegründete Republik länger als jeder türkische Politiker vor ihm. Nach seinem Sieg vom Sonntag wird er bis 2028 regieren können; er hat bereits eine Verfassungsänderung ins Gespräch gebracht, die ihm danach eine weitere Amtszeit ermöglichen würde.
Erdogan hält eine Siegesrede in seinem Palast
Nach Auszählung von fast 99 Prozent der Stimmen lag Erdogan nach Zählung der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu uneinholbar mit 52,1 Prozent vor seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, der auf 47,9 Prozent kam. Damit blieb Erdogan bei der ersten Stichwahl um das Präsidentenamt in der Geschichte der Türkei unter seinem Ergebnis der letzten Wahl im Jahr 2018, als er auf 52,6 Prozent gekommen war. Nach Zahlen der privaten Nachrichtenagentur Anka lag Erdogan am Sonntag bei 52 Prozent, während Kilicdaroglu demnach 48 Prozent einfuhr. Doch auch nach der Anka-Auszählung hatte Kilicdaroglu keine Chance auf den Sieg mehr. Die Wahlbeteiligung betrug 85,6 Prozent, nach 88,8 Prozent am 14. Mai.
Laut Anadolu stimmten türkische Wähler in Deutschland zu 66,9 Prozent für Erdogan; bei den insgesamt 1,9 Millionen Wählern im Ausland lag Erdogan mit 59 Prozent vorn. Am Wahlausgang änderten diese Stimmen aber nichts: Der Abstand zwischen Erdogan und Kilicdaroglu betrug rund 2,2 Millionen Stimmen.
Nach ersten Einschätzungen von Experten scheiterte Kilicdaroglu an der Zurückhaltung der kurdischen Wähler, die er nach der ersten Runde der Wahl am 14. Mai mit rechtsnationalistischen Parolen abgeschreckt hatte. Kilicdaroglu hatte sich vor der Stichwahl mit dem Rechtsnationalisten Ümit Özdag verbündet und zugesagt, wie die Regierung Erdogan gegen kurdische Lokalpolitiker vorzugehen. Das rächte sich am Sonntag: Die Wahlbeteiligung in kurdischen Provinzen, die für Kilicdaroglu besonders wichtig waren, fiel im Vergleich zur ersten Runde um bis zu sieben Prozent.
Nun beginne in der Opposition die Abrechnung, schrieb die Journalistin Nevsin Mengü auf Twitter. Kilicdaroglu habe das Leben und die Zukunft von Millionen Menschen seinem persönlichen Ehrgeiz geopfert, kommentierte der regierungskritische Anwalt Ali Gül. Der 74-jährige Kilicdaroglu wird sich nach der Niederlage der Forderung stellen müssen, als Vorsitzender der Oppositionspartei CHP zurückzutreten. Das könnte einen Generationswechsel in der Opposition einleiten. Kilicdaroglu kündigte für den Abend eine Stellungnahme an.
Experte erwartet Kehrtwende bei Erdogans Niedrigzins-Politik
Erdogan wird voraussichtlich im Juni seinen Amtseid ablegen. Die Wirtschaft sei das “Problem Nummer Eins“ für den Präsidenten nach der Wahl, sagt der Wirtschaftsexperte Emre Peker von der Beratungsfirma Eurasia. Erdogans Niedrigzins-Politik trotz hoher Inflation sei auf Dauer nicht durchzuhalten, sagte Peker in einer Online-Veranstaltung der Denkfabrik Washington Institute. Zwar könne die Türkei erst einmal auf Mehreinnahmen aus der Tourismus-Sommersaison und vielleicht auch auf weitere finanzielle Unterstützung aus arabischen Staaten und Russland hoffen. Doch noch vor Jahresende müsse es wegen leerer Staatskassen eine Kehrtwende geben, sagte Peker mit Blick auf nötige Zinserhöhungen, die Erdogan bisher ausschließt. Experten wie Peker rechnen mit neuen Wertverlusten der Lira an diesem Montag.
Das gesellschaftliche Klima im Land dürfte sich nach der Wahl weiter verschärfen. Mit Blick auf die Kommunalwahl im kommenden Jahr könnte Erdogan versuchen, die Justiz zu einer raschen Bestätigung des Politikverbots gegen den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu zu drängen; Imamoglu hatte das Bürgermeisteramt 2019 von Erdogans AKP erobert und ist einer der Hoffnungsträger der Opposition. Vom Verfassungsgericht erwartet die Regierung das Verbot der Kurdenpartei HDP, die bei der Parlamentswahl vor zwei Wochen unter dem Dach einer Ersatz-Partei antrat und fast fünf Millionen Stimmen und 61 Sitze gewann.
Erdogan nimmt an Gipfeltreffen der EU teil
Nach dem Rechtsruck bei der Parlamentswahl könnten Islamisten und Nationalisten in der Volksvertretung neue Verbote und Einschränkungen für Homosexuelle und Frauen beschließen. Der Politikwissenschaftler Berk Esen verwies im Fernsehsender Sözcü darauf, dass Erdogan im Parlament für Gesetzesvorhaben die Zustimmung radikaler Splitterparteien brauchen werde. Das gebe diesen Parteien Macht über den Kurs der Regierung: „Deshalb könnte das Parlament künftig in den Lebensstil der Bürger eingreifen.“
Den ersten Auftritt des Präsidenten auf der politischen Bühne Europas wird es schon in den kommenden Tagen geben. Erdogan wird am Donnerstag beim zweiten Gipfeltreffen der EU mit europäischen Nachbarstaaten in Moldawien erwartet.