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Türkei: Mit der Angst vor der Homosexualität wird in der Türkei Stimmung gemacht

Türkei

Mit der Angst vor der Homosexualität wird in der Türkei Stimmung gemacht

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    Sicherheitskräfte gehen in der Türkei immer rabiater gegen Demonstrationen von LGBT-Aktivisten vor.
    Sicherheitskräfte gehen in der Türkei immer rabiater gegen Demonstrationen von LGBT-Aktivisten vor. Foto: Sedat Suna, XinHua, dpa

    Hysterisches Kreischen schreckte neulich die Pendler in einem Bus in Istanbul auf. „Nein, ihr werdet dieses Land nicht lesbisch machen!“, brüllte eine Frau mit sich überschlagender Stimme. Die Ängste dieser Frau reflektieren einen gesellschaftlichen Massenwahn, der die Türkei seit dem erbitterten Wahlkampf vom Frühjahr ergriffen hat: die Furcht, dass westliche Staaten die türkische Jugend zur Homosexualität verführen wollen, um die türkische Gesellschaft zu zersetzen.

    Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan selbst verbreitete diese These im Wahlkampf, inzwischen ist sie staatlich sanktioniert. Auf Anweisung der Rundfunkbehörde mussten türkische Fernsehsender diese Woche einen Aufruf zu einer Großdemonstration ausstrahlen, mit der am Sonntag in Istanbul ein Verbot von „LGBT-Propaganda“ gefordert werden soll. 

    "Gegen die Perversion" lautet das Motto der Kundgebung

    „Gegen die Perversion“ lautet das Motto der Demonstration, zu der ein Bündnis von 150 konservativen Vereinen für diesen Sonntag aufruft. Wegen „LGBT-Propaganda“ steige die Zahl der homosexuellen Jugendlichen in Amerika und anderen westlichen Ländern jährlich um 20 Prozent, heißt es in dem TV-Spot, mit dem das Bündnis zu den Protesten aufruft – und der jetzt von der Rundfunkbehörde zur „öffentlichen Bekanntmachung“ erklärt wurde. Die homosexuelle Propaganda verbreite sich rapide um die ganze Welt, erklärt ein Sprecher in dem Spot zu pseudo-seriösen Grafiken, die diese Statistiken illustrieren sollen. „Wenn wir uns dieser Entwicklung nicht entgegenstellen, wird es in unserem Land bald keine Kinder mehr geben.“ Um die türkische Familie zu retten, müsse solche "Propaganda" verboten werden. 

    Als „Propaganda“ gilt vor allem die Regenbogenfahne, die in der Türkei heute so verpönt ist, wie es einst die kurdischen Nationalfarben Rot, Grün und Gelb waren. Eine Grundschullehrerin wurde im Juni vom Dienst suspendiert, weil sie in ihrem Klassenzimmer eine bunte Fahne aufgehängt hatte. Bei öffentlichen Veranstaltungen von LGBT-Sympathisanten wachen Polizisten darüber, dass die Fahne nicht gezeigt wird. 

    Der türkische Präsident ist ein Meister darin, die Polarisierung der Gesellschaft anzufachen, um konservative Türken an seine Partei zu binden.
    Der türkische Präsident ist ein Meister darin, die Polarisierung der Gesellschaft anzufachen, um konservative Türken an seine Partei zu binden. Foto: Mustafa Kaya, dpa

    Staatspräsident Erdogan selbst hatte den Weg gewiesen, als er im Wahlkampf gegen eine westliche Unterwanderung der Türkei durch homosexuelle Verführungen wetterte. „Die Verbreitung von LGBT ist ein Instrument der globalen Diktatur und eine Bedrohung, die darauf abzielt, sowohl die Familie als auch die islamischen Werte zu schwächen“, sagte der Präsident bei Kundgebungen im ganzen Land. 

    Erdogan nutzt das Thema LGBT aber vor allem für den Kulturkampf, mit dem er die Wähler vor den Kommunalwahlen im kommenden Frühjahr weiter polarisieren will. Erdogan halte seine Wähler „nicht wie früher über die Orientierung an positiven wirtschaftlichen und sozialen Zielen zusammen, sondern durch unablässige Polarisierung ethnischer, religiöser und konfessioneller Unterschiede in der Bevölkerung“, beschreiben der Soziologe Günter Seufert und der Turkologe Christopher Kubaseck dieses Kalkül in ihrem aktuellen Buch „Abschied von Atatürk: Die Krisen und Konflikte der Neuen Türkei“.

    Präsident Erdogans Strategie ist es, die Gesellschaft zu polarisieren

    Die Ausgrenzung von Homosexuellen füge sich in Erdogans Strategie der gesellschaftlichen Polarisierung ein, meint auch die amerikanische Politologin Lisel Hintz. Über die Wahlkämpfe hinaus würden solche Kampagnen die Geisteshaltung der Gesellschaft verändern, fügte Hintz auf der Plattform E-International Relations hinzu. 

    Vorbei sind jedenfalls die Zeiten, als auf Kundgebungen für Erdogan noch Regenbogenfahnen geschwenkt wurden. So lange sind sie gar nicht her: Noch 2014 ging die Pride Parade von Istanbul mit mehr als 100.000 Teilnehmern als größte solche Veranstaltung im Nahen Osten in die Geschichte ein. Seit 2015 wird sie jedes Jahr verboten. 

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