Kemal Kilicdaroglu hat lange daran gearbeitet, das Image des ewigen Verlierers abzustreifen. Der 74-Jährige steht seit 13 Jahren an der Spitze der Republikanischen Volkspartei (CHP), der größten Oppositionskraft der Türkei, und hat in dieser Zeit fast alle Wahlen gegen seinen Rivalen Recep Tayyip Erdogan verloren. Doch nun wittert Kilicdaroglu die Chance, Präsident zu werden – und die Türkei entdeckt neue Seiten an ihm.
Kilicdaroglu gehört einer alevitischen Minderheit an
Für die Türkei ist Kilicdaroglu ein außergewöhnlicher Politiker. Er ist kein sunnitischer Muslim wie die allermeisten türkischen Politiker, sondern Mitglied der alevitischen Minderheit, die dem schiitischen Islam nahesteht. Er stammt aus der überwiegend kurdischen Provinz Tunceli, in der 1937 und 1938 ein Aufstand gegen die Regierung in Ankara niedergeschlagen wurde; zehntausende Menschen wurden damals getötet. Kilicdaroglu ist selbst kein Kurde, doch seine Herkunft und seine Religionszugehörigkeit machen viele türkische Nationalisten misstrauisch.
Veraltete Anrede: Erdogan verspottet Kilicdaroglu
Der heutige Präsidentschaftskandidat begann seine Karriere als Beamter im Finanzministerium und stieg zum Generaldirektor der türkischen Sozialversicherung auf. In seinen ersten neun Jahren an der Spitze der CHP kassierte Kilicdaroglu gegen Erdogans Parei AKP eine Niederlage nach der anderen. Kilicdaroglu fand kein Konzept, um die CHP für neue Wähler zu öffnen. Auf viele türkische Wähler wirkte er wie jemand, der es gut meint, aber nichts zustande bringt. Erdogan verspottet ihn mit der veralteten Anrede "Bay Kemal“ (Herr Kemal), die ausdrücken soll, dass die CHP und ihr Chef den Anschluss an die Moderne verpasst haben.
Wahlsiege in Istanbul und Ankara
Erst 2018 kriegte Kilicdaroglu die Kurve. Er schloss ein Bündnis mit der rechtskonservativen IYI-Partei, das die Grundlage für die heutige Oppositionsallianz gegen Erdogan bildet. 2019 nominierte er zwei bis dahin weitgehend unbekannte als CHP-Oberbürgermeisterkandidaten in Istanbul und Ankara. Mit ihren Wahlsiegen endete die langjährige Herrschaft von Erdogans AKP in den größten Städten der Türkei.
Mit Durchsetzungskraft und Geschick hat sich Kilicdaroglu jetzt die Präsidentschaftskandidatur der Opposition gesichert. Erdogan hat ihn bislang als Herausforderer nicht ernst genommen. Das könnte sich als Fehlkalkulation des Präsidenten erweisen.