Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will trotz der Kritik an seiner Regierung nach der Erdbebenkatastrophe am 14. Mai wählen lassen. Erdogan werde den Tag für die Präsidenten- und Parlamentswahl an diesem Mittwoch offiziell verkünden, meldeten regierungsnahe Medien. Obwohl einige seiner Berater für eine Verschiebung der Wahlen plädiert hatten, will Erdogan die Türken davon überzeugen, dass er allein die Erdbebenregion rasch wieder aufbauen kann. Dagegen macht die Opposition den Präsidenten politisch für den Tod von mehr als 44.000 Menschen verantwortlich.
Erdogan besuchte jetzt zusammen mit seinem rechtsnationalen Bündnispartner Devlet Bahceli ein Container-Dorf für obdachlose Erdbebenopfer in der verwüsteten Provinz Adiyaman. Ein schweres Nachbeben in der Nachbarprovinz Malatya während des Besuchs erinnerte daran, wie gefährlich die Lage immer noch ist. Bei dem Erdstoß der Stärke 5,6 stürzten Gebäude ein, die den Beben am 6. Februar standgehalten hatten. Ein Mensch starb, dutzende weitere wurden verletzt.
Geologen warnen vor Nachbeben und einem übereilten Wiederaufbau in der Türkei
Geologen sagen monatelange Nachbeben voraus und warnen deshalb vor einem übereilten Wiederaufbau, doch Erdogan will sich davon nicht aufhalten lassen. Mit dem Bau der ersten neuen Häuser im Bebengebiet sei bereits begonnen worden, sagte er in Adiyaman. Im März und April werde die Arbeit an mehr als 230.000 weiteren Wohnungen begonnen. Damit will Erdogan Tatkraft demonstrieren – das Leitmotiv seines Wahlkampfs. Kritik an der Regierung weist er zurück: Eine Katastrophe von solchen Ausmaßen habe die Welt noch nie gesehen, sagte Erdogan in Adiyaman.
Laut einer Umfrage des Ipsos-Instituts unter Wählern außerhalb des Erdbebengebietes bewerten nur 30 Prozent der Türken die Erdbebenhilfe der Regierung als erfolgreich. Die Arbeit staatlicher und privater Hilfsorganisationen wird dagegen mehrheitlich positiv gesehen. Inzwischen kommen Missstände und Fehlentscheidungen ans Tageslicht. So soll der Rote Halbmond tausende Zelte an private Helfer verkauft haben, statt sie kostenlos zu verteilen. Die Unterstützung für Erdogans Partei AKP sei nach dem Beben deutlich zurückgegangen, ergab eine Umfrage des Instituts ALF. Demnach kommt das Bündnis aus AKP und Bahcelis Partei MHP nur noch auf 35 Prozent, während eine Allianz aus sechs Oppositionsparteien bei mehr als 46 Prozent liegt. Vor dem Beben hatten die beiden Blöcke in etwa gleichauf gelegen.
Die Opposition führt die hohe Zahl der Opfer bei den Erdbeben als Beleg dafür an, dass Erdogans Präsidialsystem in Krisenzeiten versagt, weil staatliche Institutionen auf Befehle von oben warten, statt schnell zu handeln. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, ein möglicher Herausforderer Erdogans bei der Präsidentenwahl, verspricht eine Rückkehr zum parlamentarischen System und die Bestrafung aller Schuldigen. Bisher haben die Behörden zwar knapp 200 Bauunternehmer und Lokalpolitiker als mutmaßliche Schuldige für Pfusch am Bau ermittelt. Die für die Branche zuständigen Bau- und Verkehrsminister sind aber weiter im Amt.
Die Proteste Istanbuler Fußballklubs verärgern die Erdogan-Regierung
In Teilen der türkischen Gesellschaft ist die Wut groß. Zehntausende Fußballfans der Istanbuler Spitzenklubs Fenerbahce und Besiktas forderten am Wochenende in Sprechchören in den Stadien den Rücktritt der Regierung. Besiktas-Fans warfen als Erinnerung an die vielen Kinder unter den Opfern tausende Plüschtiere auf den Rasen. Die Regierung reagierte verärgert.
Schon vor dem Erdbeben war die Regierung wegen der hohen Inflation in der Defensive. Doch Erdogan bleibt offenbar bei seinem Vorhaben, den Wahltag vom Juni auf den Mai vorzuziehen. In der Opposition heißt es, unmittelbar nach Festsetzung des Wahltermins werde Erdogans Herausforderer benannt.