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Türkei: Erdogans Signale: Die Scharfmacher fliegen aus der Regierung

Türkei

Erdogans Signale: Die Scharfmacher fliegen aus der Regierung

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    Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, gibt Hakan Fidan, neuer türkischer Außenminister, während einer Amtseinführungszeremonie im Präsidentschaftskomplex die Hand.
    Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, gibt Hakan Fidan, neuer türkischer Außenminister, während einer Amtseinführungszeremonie im Präsidentschaftskomplex die Hand. Foto: Riza Ozel, dpa

    Islamische und christliche Geistliche, Frauen mit und ohne Kopftuch, Männer im T-Shirt und im Anzug mit Krawatte: Als Recep Tayyip Erdogan nach seiner Vereidigung für eine neue Amtszeit als türkischer Präsident am Samstag ans Mikrofon trat, umgab er sich am Rednerpult mit Bürgern, die die Vielfalt der Gesellschaft versinnbildlichen sollten. Erdogan sprach seine Kritiker – „Journalisten, Autoren, Zivilgesellschaft, Künstler, Oppositionspolitiker“ – direkt an: „Die Türkei braucht eine umfassende Versöhnung“, sagte er. In den nächsten fünf Jahren werde er dem ganzen Land dienen. Will der Präsident den Neuanfang? Nach mehr als 20 Jahren unter Erdogan glauben regierungskritische Türken nicht daran. Sie vermuten, dass der Staatschef mit seinem neuen Kurs eigene Interessen verfolgt.

    Erdogans neues Kabinett soll jedenfalls eine Abkehr von Streit, Spaltung und Spannungen signalisieren. Für seine neue Amtsperiode hat der Präsident die Scharfmacher aus der Regierung geworfen und sie durch Experten und Technokraten ersetzt.

    Neuer Finanzminister Simsek soll die Wirtschaft flott machen

    Der neue Finanzminister Mehmet Simsek ist das auffälligste Beispiel dafür. Der bei westlichen Investoren hoch angesehene Politiker diente dem Präsidenten schon von 2009 bis 2018 als Minister und Vizepremier, wurde aber schließlich entlassen, weil Erdogan seine eigenen Vorstellungen von Finanz- und Wirtschaftspolitik durchsetzen wollte. Seitdem senkt die Türkei trotz hoher Inflation die Leitzinsen; die Zentralbank verlor ihre Unabhängigkeit und wurde Erdogans Weisungen unterworfen. Eine Wirtschaftskrise mit hoher Inflation war die Folge. Trotzdem betonte Erdogan noch kurz vor seinem neuen Wahlsieg am 28. Mai, er werde bei seiner Niedrigzins-Politik bleiben.

    Erdogan holt den angesehenen Ökonomen Mehmet Simsek ins neue Kabinett.
    Erdogan holt den angesehenen Ökonomen Mehmet Simsek ins neue Kabinett. Foto: Uwe Anspach, dpa

    Davon ist jetzt keine Rede mehr, im Gegenteil. Erdogan hat Simsek zurück ins Kabinett geholt, um zu einer berechenbaren Finanzpolitik zurückzukehren. Simsek hat sich von Erdogan garantieren lassen, dass er bei der Kurskorrektur freie Hand haben wird. Erdogan hat sich darauf eingelassen, weil er die Wende braucht: Simsek soll die Wirtschaft rechtzeitig vor den Kommunalwahlen im kommenden Frühjahr wieder flott machen. Bei den Wahlen will Erdogan die Großstädte Istanbul und Ankara zurückerobern.

    Der neue Außenminister Hakan Fidan soll die Beziehungen zum Westen verbessern

    Vom neuen Außenminister Hakan Fidan wird eine Stabilisierung der Außenpolitik erwartet, um die Türkei für westliche Investoren attraktiver zu machen. Der bisherige Geheimdienstchef Fidan ist seit Jahren einer der engsten Berater Erdogans und übernimmt das Außenamt, weil der Präsident seinen Dauerstreit mit dem Westen beilegen und sich auch wieder mit den arabischen Staaten vertragen will. Erdogans bisheriger Sprecher Ibrahim Kalin, ein international respektierter Berater des Präsidenten, soll neuer Geheimdienstchef werden.

    Auch in anderen Ressorts ist Erdogans neue Linie erkennbar. Der bisherige Innenminister Süleyman Soylu, ein anti-westlicher Hardliner und Liebling türkischer Nationalisten, muss seinen Stuhl für den Karriere-Bürokraten Ali Yerlikaya räumen, den bisherigen Gouverneur von Istanbul.

    Westliche Türkei-Experten werten das neue Kabinett als positives Zeichen. „Clowns und Rüpel“ seien aus der Regierung entfernt worden, schrieb Timur Kuran von der US-Universität Duke auf Twitter. Auch die kurdische Minderheit ist in der neuen Regierung stark repräsentiert. Simsek und Fidan, zwei der wichtigsten Minister im Kabinett, sowie Gesundheitsminister Fahrettin Koca und der neue Vizepräsident Cevdet Yilmaz sind kurdischer Abstammung. Allerdings verdanken sie ihre Posten nicht einer neuen Kurdenpolitik, sondern anderen Prioritäten des Präsidenten.

    Soll die Verfassung für weitere Amtszeiten Erdogans geändert werden?

    Erdogan richtet seinen Blick über die Kommunalwahl in zehn Monaten hinaus auf die Präsidentenwahl im Jahr 2028. Nach der derzeitigen Verfassung darf der heute 69-Jährige in fünf Jahren nicht noch einmal kandidieren. Deshalb will er die Wähler vorher über eine neue Verfassung abstimmen lassen, die ihm eine weitere Amtszeit ermöglichen würde. Der neue Justizminister Yilmaz Tunc erklärte gleich nach seiner Ernennung, die neue Verfassung sei sein wichtigstes Projekt. Im Parlament braucht Erdogan die Unterstützung von Teilen der Opposition, um eine Volksabstimmung über die neue Verfassung anzusetzen.

    Die neue Regierung werde an ihren Taten gemessen, schrieb der Erdogan-kritische Journalist Murat Sabuncu von der Nachrichtenplattform T24. Sabuncu wies darauf hin, dass politische Gefangene in Haft sitzen, obwohl das türkische Verfassungsgericht und der Europäische Menschengerichtshof ihre Freilassung angeordnet haben. Während der Präsident in Ankara von Versöhnung sprach, führte die Polizei in Istanbul die Teilnehmerinnen einer friedlichen Frauenkundgebung in Handschellen ab.

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