Vor dem Gezi-Park in Istanbul stehen die Wasserwerfer bereit – seit fast neun Jahren. Alle paar Stunden werden Fahrzeuge und Mannschaften ausgetauscht, ebenso die schwerbewaffneten Wachen am Eingang zum Park. Der kleine Grünflecken im Herzen von der türkischen Großstadt steht unter polizeilicher Belagerung, seit zehntausende Menschen hier im Frühsommer 2013 gegen Recep Tayyip Erdogan und seine AKP-Regierung demonstrierten. Denselben Zweck verfolgt die Regierung mit den brutalen Urteilen gegen Osman Kavala und sieben weitere Aktivisten der türkischen Zivilgesellschaft, die sie wegen ihrer Teilnahme an den Gezi-Protesten wegen Umsturzversuches wegsperren lässt. Der Kulturförderer Kavala soll lebenslang ins Gefängnis.
Erdogan stellt Gezi-Proteste in eine von Putschversuchen
Kavalas Beitrag zu den Gezi-Protesten bestand in der Spende von ein paar Brötchen und Stühlen an die Demonstranten im besetzten Gezi-Park. Mit dem Urteil lässt Erdogan nun ein Exempel an ihm statuieren: Wer die Machtverhältnisse infrage stellt, und sei es nur durch leise Kritik oder ein paar Brötchen, wird es bereuen müssen. Diese Botschaft steht hinter den drakonischen Strafen im Gezi-Prozess: lebenslange Einzelhaft ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung für den Kulturförderer Kavala, jeweils 18 Jahre Gefängnis für sieben Mitangeklagte, die nach der Urteilsverkündung am Montagabend noch im Gerichtsgebäude verhaftet wurden. Der mittlerweile 64-jährige Kavala saß ohnehin bereits seit 2017 ohne Urteil im Gefängnis.
Erdogan stellt die Gezi-Protestwelle in eine Reihe mit dem Putschversuch von 2016 und setzt auch neun Jahre nach den Demonstrationen in Istanbul und anderen Städten der Türkei alles daran, führende Mitglieder der Protestbewegung aus dem Verkehr zu ziehen: Der Präsident versteht das Potenzial der Gezi-Bewegung als Bedrohung und will ein Jahr vor den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen jeden Widerspruch aus der Zivilgesellschaft im Keim ersticken.
Deutschland, USA und EU kritisieren das Urteil gegen Kavala
Aus ähnlichen Gründen lässt die Regierung den früheren Vorsitzenden der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas, seit Jahren im Gefängnis festhalten. Wie bei Kavala fordert der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg im Fall Demirtas die sofortige Freilassung. Und wie bei Kavala, der bereits seit viereinhalb Jahren in Haft ist, ignoriert die Türkei diese Anordnung.
Deutschland, die EU und die USA kritisieren das Urteil im Gezi-Prozess als Willkür-Entscheidung und als Verstoß gegen westliche Rechtsnormen, im Europarat läuft ein Ausschlussverfahren gegen die Türkei. „Dieses Urteil steht in krassem Widerspruch zu den rechtsstaatlichen Standards und internationalen Verpflichtungen, zu denen sich die Türkei als Mitglied des Europarats und EU-Beitrittskandidatin bekennt“, sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne). „Wir erwarten, dass Osman Kavala unverzüglich freigelassen wird - dazu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei verbindlich verpflichtet.“ Doch für den türkischen Präsidenten ist die nächste Wahl wichtiger: Obwohl sich die Türkei offiziell der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichts unterordnet, lehnt Erdogan die Umsetzung Straßburger Urteile ab, die ihm politisch nicht passen.
Anhänger des Präsidenten feierten das Urteil im Gezi-Prozess als Akt des Widerstandes der türkischen Justiz gegen ausländische Einmischungsversuche. Schließlich stünden die Gezi-Proteste für einen „Krieg der globalen Mächte gegen die Türkei“, schrieb der Erdogan-treue Kolumnist Mehmet Barlas in der Zeitung Sabah. Der Appell an den Nationalismus und die Verteufelung des westlichen Auslands gehören zu Erdogans Standard-Repertoire im Wahlkampf.
"Die Justiz wird als Instrument der politischen Rache benutzt"
Unumstritten ist dieser Kurs im Staatsapparat nicht. Obwohl die Justiz in den vergangenen Jahren auf Regierungslinie gebracht wurde, gibt es unter Richtern und Staatsanwälten offenbar Bedenken gegen den Missbrauch der Justiz als Erdogans Keule. Im Prozess gegen Kavala und die Gezi-Aktivisten wurden mehrmals die Richter ausgetauscht. Bei dem Urteil am Montag lehnte einer der drei Richter nach Medienberichten wegen des Mangels an Beweisen eine Verurteilung der Angeklagten ab, wurde jedoch von den zwei anderen Mitgliedern der 13. Kammer im Istanbuler Schwurgericht überstimmt.
Alle Beteiligten wüssten, dass das Urteil eine politische Entscheidung gewesen sei, schrieb die Journalistin Kübra Par von der Internetzeitung HaberTürk am Dienstag. „Die Justiz wird als Instrument der politischen Rache benutzt.“ Wenn sich die politische Konjunktur in der Türkei ändere, werde das Urteil revidiert, ist sich Par sicher.
Darauf hoffen auch Erdogans Gegner. Die Regierung werde die Justiz nicht mehr lange für ihre Zwecke benutzen können, kommentierte Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu mit Blick auf die anstehenden Wahlen: „Wir werden die Gerechtigkeit neu errichten.“