Am Ende gratulieren ihm sogar die Grünen. „Herzlichen Glückwunsch an den Wahlsieger #BorisPalmer. Als Ex-Tübinger wünsche ich der Stadt weiterhin viel Öko & mehr Zusammenhalt, zu dem alle ihren Beitrag leisten können“, schreibt Cem Özdemir, Bundeslandwirtschaftsminister und einer der erfolgreichsten Vertreter seiner Partei, auf Twitter. Dabei war das, was in Tübingen passiert ist, nichts anderes als eine klatschende Ohrfeige für die Öko-Partei.
Weil seine Mitgliedschaft bei den Grünen wegen mehrerer Tabubrüche und schwerer Rassismus-Vorwürfe ruht, wagte sich Boris Palmer als parteiloser Kandidat in das Rennen um das Oberbürgermeisteramt der Universitätsstadt Tübingen – und wurde am Sonntag im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit (52,4 Prozent) im Amt bestätigt. Die (eigentliche) Kandidatin der Grünen, Ulrike Baumgärtner, kam auf 22 Prozent der Stimmen, die SPD-Kandidatin Sofie Geisel auf 21,4 Prozent. Das Dreier-Rennen mobilisierte: Die Wahlbeteiligung war mit 62,6 Prozent für eine Kommunalwahl überraschend hoch – 18 Prozent höher als im baden-württembergischen Durchschnitt des vergangenen Jahrzehnts.
Boris Palmer geht auf seine Kritiker zu
Palmer selbst versuchte ebenfalls einen Schritt auf seine Kritikerinnen und Kritiker zuzumachen: „Lassen Sie uns aufeinander zugehen und nach dem Streit die Hand geben“, schrieb der 50-Jährige auf seiner Facebook-Seite. „Die Zeiten, die vor uns liegen, sind schwer genug.“ Man könne sie nur bewältigen, wenn man im Innern stark und einig sei. Dafür wolle er seinen Beitrag in den kommenden acht Jahren leisten, so Palmer. Ob er das als Grünen-Mitglied tun wird, bleibt offen. Offiziell ruht seine Mitgliedschaft, doch die Partei hat in den vergangenen Jahren bereits mehrere Rathäuser in Baden-Württemberg verloren und dürfte nach diesem Votum der Bürgerinnen und Bürger eher wenig Interesse daran haben, einen weiteren Oberbürgermeisterposten zu verlieren.
Unter anderem hatte Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Vergangenheit immer wieder versucht, die Tabubrüche seines Kollegen zwar öffentlich zu rügen, insgesamt aber mit großem Pragmatismus auf den Partei-Rebellen zu reagieren. Ähnlich scheint das nun auch Chris Kühn zu handhaben, grüner Wirtschaftsstaatssekretär und Tübinger Bundestagsabgeordneter. Der FAZ sagte er: „Wir müssen das Freund-Feind-Denken überwinden und noch in diesem Jahr mit Boris Gespräche führen.“ Und doch ist kaum zu erwarten, dass Palmer seinen Stil ändert, der Wahlerfolg scheint ihn in seinem Kurs zu bestätigen. Auf seiner Facebook-Seite schrieb er am Montag: „Ich habe nie versucht, es allen recht zu machen und stattdessen Konflikte offen ausgetragen. Politik mit offenem Visier bringt die Demokraten vom Sofa und an die Wahlurne.“ Und doch stellt er klar: „Ich will von ruhendem Grün wieder zu aktivem Grün wechseln.“ Für das kommende Jahr sind erneut Gespräche zwischen Partei und Palmer vereinbart.
Auch für die Grünen sind Palmers Erfolge ansehnlich
Auch wenn sich Palmer immer wieder als Querkopf beweist – seine Erfolge lassen sich auch aus Sicht der Grünen sehen. Immer wieder hat er bewiesen, dass wirtschaftliche Stabilität und Umweltpolitik kein Widerspruch sein müssen. Eines seiner Versprechen ist, Tübingen bis 2030 klimaneutral zu machen. Auch, dass eine 90.000-Einwohner-Stadt immer wieder bundesweite Aufmerksamkeit erhält, ist wesentlich das Verdienst des 50-Jährigen.
Und auch im Wahlkampf ging die Taktik des Tübingers auf. „Es war richtig, als unabhängiger Kandidat anzutreten und sich damit der Diskussion innerhalb der Grünen zu entziehen“, sagt Frank Brettschneider, Politikexperte von der Universität Hohenheim. „Und auch zu sagen: Ich lege die Entscheidung über meine politische Zukunft insgesamt in die Hand der Wählerinnen und Wähler. Dadurch wurde die Wahl zu einer extremen Personalentscheidung.“
Palmer kommt auch bei Konservativen gut an
Zugute sei Palmer gekommen, dass die CDU nicht mit einem eigenen Kandidaten ins Rennen gegangen sei – immerhin kommt der OB auch im konservativen Lager gut an. Entsprechend viele Wähler dürfte er aus diesem Lager eingesammelt haben. „Sie wollten halt jemanden wie den Palmer, der einerseits sehr viel gemacht hat für Ökologie, Klimaschutz, Radwege und Mobilität, andererseits aber auch dafür sorgt, dass Gewerbegebiete ausgewiesen werden, dass sich die Stadt um Unternehmen kümmert“, sagt Brettschneider. „Das sind Punkte, die CDU-Wähler weniger Grünen-Kandidatin Ulrike Baumgärtner oder Sophie Geisel von der SPD zugetraut haben.“
Gleichwohl warnt Brettschneider vor der Annahme, dass all jene, die Palmer gewählt haben, auch mit seinem Politstil einverstanden sind. „Ich glaube, viele haben ihn gewählt, nicht wegen, sondern trotz seines Stils“, sagt der Politikexperte. „Zumindest bei Äußerungen zum Thema Migranten oder über ältere Menschen zu Beginn der Covid-Pandemie. Bei den 52 Prozent sind natürlich auch welche, die sagen: Recht hat er. Aber viele haben ihn trotzdem gewählt.“ Und die große Karriere in der Landespolitik dürfte Palmer weiterhin verschlossen bleiben. Dort, wo sich Politiker über Listen und in Gremien beweisen müssen, dürfte er auch künftig wenig Chancen haben. „Das ist fast ein bisschen tragisch: Er könnte eigentlich diese Rolle spielen, aber er hat sich selbst Mauern errichtet“, sagt Frank Brettschneider.