Abschotten, abschrecken, abschieben – so lautet der neue Dreiklang der europäischen Migrationspolitik. Mehr als acht Jahre wurde über das europäische Asylrecht gestritten. Am Mittwoch segnete eine Mehrheit des EU-Parlaments in Brüssel die Asylreform ab. Als historisch bewerten viele Beobachter den Schritt – allein, weil sich die EU auf eine Regelung verständigen konnte. Im Zentrum des Pakts steht eine massive Verschärfung des Asylrechts. Viel wichtiger ist jedoch die Botschaft, die viele Politiker wenige Wochen vor den Europawahlen an die Bürger der Gemeinschaft vermitteln wollen: Wir bekommen die Lage gemeinsam in den Griff, nehmen eure Ängste ernst. Kritiker bezweifeln hingegen, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) die Erwartungen der Wähler erfüllen wird.
Die Reform soll zumindest mittel- und langfristig Ordnung in das Chaos des europäischen Asylsystems bringen. Ein Plan ist, Geflüchtete mit geringen Bleibechancen (Anerkennungsquote von unter 20 Prozent) schon an den Außengrenzen abzuweisen und so Nachahmer abzuschrecken. Bis zur Entscheidung über den Asylantrag sollen die Menschen bis zu zwölf Wochen unter haftähnlichen Bedingungen in Auffanglagern untergebracht werden können. Ankommende Menschen würden künftig mit Fingerabdrücken und Fotos registriert werden, auch um zu überprüfen, ob sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit sind.
Zudem will die EU härter mit Menschen umgehen, die über Länder einreisen, die als relativ sicher gelten. Wie heikel allein dieser Punkt ist, zeigt das Beispiel syrischer Flüchtlinge in Deutschland. Sie haben zwar hohe Schutzquoten, reisen aber oft über die Türkei und Griechenland nach Deutschland. Dann liege es an den Mitgliedstaaten, zu entscheiden, ob sie diese Menschen in Grenzverfahren nehmen oder nicht. Bei der Sortierung in diesen Einrichtungen, dem sogenannten Screening, gelten die Flüchtlinge juristisch als nicht eingereist, was ihre Rechte einschränkt und ihre Abschiebung erleichtern soll.
Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen, müssen zahlen
Bei einem besonders starken Anstieg der Migration könnte von den Standard-Asylverfahren mit der sogenannten Krisenverordnung abgewichen werden. Zum Beispiel kann der Zeitraum verlängert werden, in dem Menschen unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden. Die Verteilung der Schutzsuchenden auf die EU-Staaten wird den Plänen zufolge mit einem „Solidaritätsmechanismus“ neu geregelt: Wenn die Länder keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, müssen sie finanzielle Unterstützung an andere Mitgliedsländer oder Drittstaaten leisten.
Die EU hat nach der Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 viel Zeit verschenkt. Damals waren Länder im Süden Europas wie Griechenland mit einer Vielzahl an ankommenden Menschen aus Ländern wie Syrien überfordert. Hunderttausende reisten unregistriert in andere EU-Staaten, was nach der sogenannten Dublin-Verordnung eigentlich nicht hätte passieren dürfen. Asylbewerber sollen da registriert werden, wo sie die Union zuerst betreten haben. Erst als die Flüchtlingszahlen im vergangenen Jahr wieder anstiegen, die überforderten Kommunen aufschrien und Populisten europaweit zulegten, griffen der Europäische Rat und das Parlament Gesetzentwürfe auf, die die Kommission bereits im September 2020 vorgelegt hatte. Auch weil es bei dem emotionalen Thema in den vergangenen Jahren regelmäßig zu Konflikten zwischen den EU-Partnern kam, geriet die EU am Ende unter massiven Zeitdruck, um das Paket noch vor der Wahl abzuschließen. Ein Scheitern zum jetzigen Zeitpunkt hätte jedoch vor allem rechtsextremen Parteien in die Karten gespielt.
Abstimmung wird für die Grünen zur Zerreißprobe
Die Einigung stellt insbesondere die Grünen vor eine Zerreißprobe. Sie hatten unter anderem gefordert, zumindest Familien mit Kindern von den Grenzverfahren auszunehmen. Dem Wunsch wurde nicht entsprochen. Dementsprechend stellten sich die 21 grünen EU-Abgeordneten aus Deutschland am Mittwoch gegen den Kompromiss – aber damit auch gegen die Grünen in der Bundesregierung. In Berlin hatte man die Einigung im Dezember begrüßt und will im Ministerrat zustimmen.
In Berlin stehen die Grünen in der Verantwortung als Teil der Bundesregierung, die in angespannten Zeiten unter dem Druck steigender Flüchtlingszahlen schnelle Erfolge liefern muss. Nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz vergangenen Herbst ein Machtwort in Richtung des grünen Koalitionspartners gesprochen hatte, machte die Partei den Weg für die Asylrechtsverschärfung frei, wenn auch unter Schmerzen.
Die grünen EU-Abgeordneten in Brüssel blieben dagegen bis zuletzt bei ihrem Widerstand. Sie lehnen insbesondere das Prinzip der Internierung von Flüchtlingen an den Außengrenzen ab. Ihre Sorge ist, dass Menschenrechte auf der Strecke bleiben könnten. Der grüne EU-Parlamentarier Erik Marquardt sprach von einer „verpassten Chance“. Die Reform folge in weiten Teilen dem „Irrweg der vergangenen Jahre“. Statt inhaltlich um Lösungen zu ringen, versinke die Debatte „in einem polemischen Wettstreit um die härteste Rhetorik gegen Asylsuchende und parteipolitischer Polemik“. Die Modifizierung des Systems werde „nicht zu weniger Asylanträgen, sondern zu Chaos, Leid und mehr Sekundärmigration in Ländern wie Deutschland führen".
EU-Mitgliedstaaten müssen eigene Gesetze ändern
Kurzfristig wird sich an der Situation ohnehin nichts ändern. Die Mitgliedstaaten haben zwei Jahre Zeit, die politisch geeinten Regelungen in die Praxis umzusetzen. Deutschland muss unter anderem noch rechtliche Anpassungen etwa im Asylgesetz und im Aufenthaltsgesetz vornehmen, dazu bedarf es nicht nur der Abstimmung verschiedener Ministerien, sondern auch der Bundesländer.
Die Übergangszeit soll den Staaten an den Außengrenzen genügend Zeit geben, entsprechende Einrichtungen zur Unterbringung von Menschen aus Staaten mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent zu schaffen. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson beteuerte, dass die EU-Länder um Schnelligkeit bemüht seien. „Einige der Mitgliedstaaten haben bereits mehr oder weniger mit der Umsetzung begonnen.“ (mit dpa)