Es waren nur knapp zwei Minuten, aber in der Erinnerung von Philippe Lançon erscheint jede Sekunde davon auf dramatische Weise verlangsamt. Zuerst sah er, wie der Personenschützer Franck Brinsolaro sich brüsk erhob, erst seinen Kopf und dann den gesamten Körper in Richtung der Türe zu seiner Rechten wandte. „In genau diesem Moment, beim Beobachten seiner Gesten von der Seite, wie er seine Waffe zückte, habe ich verstanden, dass es sich weder um einen Witz noch um spielende Kinder, ja nicht einmal um eine Aggression handelte, sondern um etwas völlig anderes.“
Das schrieb der Journalist und ehemalige Mitarbeiter des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo in seinem Buch „Der Fetzen“. Dieses „völlig andere“ war ein Terroranschlag, verübt vor genau zehn Jahren, am 7. Januar 2015, den Lançon schwer verletzt überlebte. Mit dem Titel seines Werks spielte er auf das an, was nach einem Schuss ins Gesicht von seiner Wange und seinen Lippen übrig geblieben war und in 13 Operationen mühsam wieder hergestellt werden musste.
Terror gegen „Charlie Hebdo“: Zwei Minuten reichten, um ein Blutbad anzurichten
Zwei unerträglich lange Minuten reichten für die Brüder Saïd und Chérif Kouachi, um ein Blutbad in der Redaktion von Charlie Hebdo anzurichten. Acht der zwölf ermordeten Menschen waren Mitglieder der Redaktion, unter ihnen der Herausgeber Stéphane Charbonnier, genannt Charb, aber auch dessen Personenschützer sowie der Polizist Ahmed Merabet auf der Straße. Groß war die Erschütterung in Frankreich, als sich im vergangenen Oktober auch der frühere Webmaster Simon Fieschi das Leben nahm. Er hatte das Attentat verletzt überlebt, aber nie verwunden.
Doch zum Schweigen brachten die Terroristen Charlie Hebdo nicht, von dem es zeitweise sogar eine deutsche Ausgabe gab. Es erscheint jede Woche neu, provoziert und schockiert weiter, zuletzt mit einer Karikatur, die den Prozess um die massenhafte Vergewaltigung von Gisèle Pelicot und die inzwischen abgeschlossene Suche von Präsident Emmanuel Macron nach einem neuen Premierminister verband. Die Zeichnung zeigte Macron als filmenden Vergewaltiger der französischen Symbolfigur „Marianne“, hinter ihm eine lange Schlange wartender Männer.
Die Pressekarikatur ist auf dem Rückzug
„Die Lust zu lachen wird niemals verschwinden“, schrieb Chefredakteur Riss (Laurent Sourisseau), der den Anschlag überlebte, weil er sich in einer Blutlache liegend tot stellte, nun in einer Sonderausgabe zum zehnten Jahrestag. „Die Satire verfügt über eine Tugend, die uns hilft, tragische Zeiten zu überstehen.“ In einer Spezialausgabe werden auch ausgewählte Zeichnungen von Religionsvertretern gezeigt, welche das Magazin seit jeher besonders scharf kritisierte.
Auch wenn sich eine Figur in einer Karikatur fragt, „ob es in Ordnung ist, einen Typen zu zeichnen, der einen Typen zeichnet, der Mohammed zeichnet“. Dem Historiker Christian Delporte zufolge verweigerte Charlie Hebdo stets die Selbstzensur. „Das ist nicht überall der Fall, denn auf Karikaturisten wie auf Verantwortlichen der Zeitungen lastet eine gewisse Angst.“ Das bekannte Risiko könnte einer der Gründe für den ständigen Rückgang der Pressezeichnung weltweit sein, so Delporte.
2019 stellte die New York Times nach einer umstrittenen Karikatur des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu diese generell ein. Gerade begann in Paris der Prozess gegen sechs Personen wegen eines Anschlags vor dem ehemaligen Gebäude von Charlie Hebdo kurz nach der neuerlichen Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen im Jahr 2020. Zwei Menschen wurden damals schwer verletzt, die mit der Redaktion, welche längst umgezogen war, gar nichts zu tun hatten.
Eine Reihe von Terrorattacken erschütterte Frankreich
In einer Umfrage sagten 2024 dennoch 76 Prozent der Menschen in Frankreich, die Meinungsfreiheit sei ein Grundrecht und 62 Prozent sprachen sich für das „Recht, einen Glauben, ein religiöses Symbol oder Dogma auf beleidigende Art zu kritisieren“, aus. Auch nach dem Anschlag vor zehn Jahren war die Solidarität riesig. Das Schlagwort „Je suis Charlie“ („Ich bin Charlie“) ging um die Welt. Bei Kundgebungen am 11. Januar 2015 beteiligten sich landesweit Millionen Menschen und rund 50 Staats- und Regierungschefs.
Gedacht wurde nicht nur der Opfer der Kouachi-Brüder, welche nach zwei Tagen in einer Druckerei rund 40 Kilometer nordöstlich von Paris von der Polizei getötet wurden. Denn noch während die Fahndung nach ihnen lief, tötete Amedy Coulibaly, ein polizeibekannter Kleinkrimineller und ehemaliger Mithäftling von Chérif Kouachi, am 8. Januar die Verkehrspolizistin Clarissa Jean-Philippe im Vorort Montrouge und am 9. Januar vier Männer während einer Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt in Paris.
Für die jüdische Gemeinschaft in Frankreich war dies ein Schock; bereits im März 2012 hatte der Terrorist Mohamed Merah in Montauban und Toulouse zunächst drei Soldaten und anschließend vor einer jüdischen Schule drei Kinder und einen Rabbiner erschossen. Knapp drei Jahre später nannte auch Coulibaly antisemitische Gründe für seine Morde. Er bekannte sich in einem später veröffentlichten Video zur Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Demgegenüber reklamierte die Terrormiliz Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel den Anschlag auf Charlie Hebdo für sich.
Das Land organisierte die Terrorbekämpfung neu
Die Attentate vom Januar 2015 galten als grausamer Auftakt einer ganzen Reihe von Terrorakten in Frankreich und in Europa. Am 13. November 2015 starben bei Attacken gegen Pariser Bars, die Konzerthalle Bataclan und das Fußballstadion Stade de France insgesamt 130 Menschen, Hunderte wurden verletzt. An 2015 erinnert sich Frankreich als das Jahr, in dem es so schwer wie nie vom Terrorismus getroffen wurde.
Seitdem organisierte das Land die Terrorbekämpfung neu, weitete die Kompetenzen von Polizei und Geheimdiensten aus. 2019 wurde eine spezialisierte Antiterror-Staatsanwaltschaft gegründet. Zu lange im Voraus geplanten, von einer Gruppe koordinierten Anschlägen wie im November 2015 kam es seitdem nicht mehr - wiederholt allerdings zu Attentaten durch allein handelnde Männer.
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