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Taipeh: Droht Taiwan das gleiche Schicksal wie der Ukraine?

Taipeh

Droht Taiwan das gleiche Schicksal wie der Ukraine?

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    Menschen in Taiwan demonstrieren ihre Unterstützung für das ukrainische Volk.
    Menschen in Taiwan demonstrieren ihre Unterstützung für das ukrainische Volk. Foto: Brennan O Connor, Zuma Press Wire/dpa

    Lam Wing-kee hat sich auf gut 50 Quadratmetern im Widerstand gegen die chinesische Führung eingerichtet. Draußen schlängeln sich die Mopeds durch die Straßen der geschäftigen Innenstadt Taipehs, drinnen in Wing-kees Laden im zehnten Stock eines schmucklosen Büroblocks herrscht wohltuende Stille unter Neonlicht. In der Ecke das schmale Hochbett, im Rest des Raums Regale voller Bücher; viele über China, viele kritisch gegenüber Präsident Xi Jinping, viele verboten auf dem Festland.

    An den Wänden mit der feinen Blumentapete hängen Postkarten, die zum Freiheitskampf auffordern, und ein schwarzes Banner, das „Revolution Now“ verlangt. Darunter klebte Wing-kee eine Zeitungsseite, die von den immer wieder auch in Gewalt ausgearteten Protesten in Hongkong erzählt – und so auch von Lam Wing-kees Vergangenheit.

    Er war einer von fünf Buchhändlern aus der sogenannten Sonderverwaltungszone, die im Herbst 2015 von Agenten der chinesischen Führung verschleppt wurden, weil sie Publikationen verkauften, die den Mächtigen in Peking missfielen. Nachdem er 2019 ins Exil nach Taiwan flüchtete, wiedereröffnete er das „Causeway Bay Books“, eine Mischung aus Buchladen, Wohnung, politischem Kriegsschauplatz und Symbol für Taiwans lebendige Demokratie.

    Buchhändler Lam Wing-kee floh 2019 aus Hongkong ins Exil nach Taiwan.
    Buchhändler Lam Wing-kee floh 2019 aus Hongkong ins Exil nach Taiwan. Foto: Alex Hofford, dpa (Archivbild)

    „Kritisches Denken ist der beste Schutz gegen Chinas Regime“, sagt Wing-kee. Der hagere Mann mit der runden Brille, den grauen Haaren und Sandalen an den Füßen, organisiert regelmäßig Buchbesprechungen und Diskussionsrunden. „Nur wenn wir China verstehen, können wir die Führung stürzen.“ Geprägt von den Erfahrungen in Hongkong, scheint er fast irritiert von der locker wirkenden Stimmung in seiner neuen Heimat. Der 66-Jährige lehnt sich auf dem Stuhl zurück, verschränkt seine Arme und sagt mit ruhiger Stimme: „Taiwan muss aufwachen.“

    Der Krieg in der Ukraine hat die Führung des 23-Millionen-Einwohner-Lands Taiwan endgültig aufgerüttelt

    Seit Jahren nehmen die Spannungen zwischen der Volksrepublik China und der Republik China, wie Taiwan offiziell heißt, zu. Die Führung in Peking betrachtet die freiheitliche Insel als abtrünnige Provinz und will sie seit 73 Jahren mit der kommunistischen Volksrepublik vereinen, notfalls mit militärischer Gewalt.  Um ihren Anspruch auf Taiwan zu untermauern und dessen Luftwaffe unter Druck zu setzen, schickt Peking immer häufiger Kampfjets und Bomber in den Verteidigungsluftraum Taiwans.

    Drangen 2020 noch rund 370 chinesische Flugzeuge in die Identifikationszone ein, waren es 2021 bereits 958 und in diesem Jahr zählte die Regierung in Taipeh nur bis Juni mehr als 600 solcher Provokationen. Die Sorge wächst, der Konflikt im Südchinesischen Meer könnte in naher Zukunft eskalieren – und damit eine direkte Auseinandersetzung zwischen den führenden Großmächten USA und China nach sich ziehen.

    Der Krieg in der Ukraine hat zumindest die Führung des 23-Millionen-Einwohner-Lands endgültig aufgerüttelt. Ein autoritärer Staat, der aus Größenwahn seinen kleineren Nachbarn, noch dazu eine junge Demokratie, angreift? Die Parallelen sind für die Menschen mehr als offensichtlich. Zwischen Taipeh und Kiew mögen 8000 Kilometer liegen, doch die Angst, dass China von Wladimir Putins Gebaren ermutigt wird, ist groß. Würde die westliche Gemeinschaft dem Land bei einem Angriff ebenso beistehen wie derzeit der

    Erst diese Woche drohte die chinesische Führung mit „starken und entschlossenen Gegenmaßnahmen“, sollte die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi auf die autonom regierte Insel reisen, wie sie es angeblich für August plant. Die meisten Länder erkennen nur die Volksrepublik als souveränen Staat an, darunter auch Deutschland und die USA. Gleichwohl unterstützt die amerikanische Regierung im Rahmen einer Politik der „strategischen Zweideutigkeit“ Taiwan politisch und militärisch, ohne ausdrücklich zu versprechen, der Insel im Kriegsfall zu Hilfe zu kommen. Dennoch, Peking bewertet jedes Zeichen im Sinne Taiwans als Brüskierung.

    „Es gilt, auch so eine kleine Insel nicht im Stich zu lassen", sagt die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Nicola Beer

    Das machte deren Führung auch an jenem Dienstagmorgen deutlich, als die bislang ranghöchste Besucherin aus Brüssel in Taipeh landete. Nicola Beer (FDP), Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, überbrachte während ihres dreitägigen Trips persönlich die Botschaft, dass die EU fest an der Seite Taiwans stehe. Während Peking über „eine schwere Verletzung des Ein-China-Prinzips“ schimpfte und schon im Vorfeld einen Flugzeugträger durch die Taiwanstraße, jene 180 Kilometer breite Meeresenge zwischen dem chinesischen Festland und der Insel, schickte, rollte die taiwanische Regierung den roten Teppich aus.

     Treffen mit Präsidentin Tsai Ing-wen, mit Premierminister Su Tseng-chang, mit Außenminister Joseph Wu – prominenter geht nicht, alle bezeichneten den Besuch wahlweise als „außerordentlich bedeutsam“, „bedeutendes Zeichen“ oder „höchst bedeutsam“. Und Beer lieferte als Antwort viel Balsam für die Seele der Nation. „Nur das taiwanische Volk kann über die Zukunft Taiwans entscheiden“, gehörte zu jenen Sätzen, die nickend aufgenommen wurden. Sie haben auf der ostasiatischen Insel genau verfolgt, wie sich das EU-Parlament im Oktober 2021 mit großer Mehrheit für eine „umfassende und verstärkte Partnerschaft“ mit Taiwan ausgesprochen und seit Februar vergangenen Jahres „20 Resolutionen zugunsten Taiwans“ verabschiedet hat, wie jeder Politiker im Gespräch mit Beer lobend betonte. Dieser Tage werde „mehr denn je über Taiwan geredet“, sagte Außenminister Wu.

    Schutz durch Sichtbarkeit, so lautet die Hoffnung. Taiwan setzt zudem auf die Stimme Europas, um internationalen Gremien, vorneweg der Weltgesundheitsorganisation WHO, beizutreten. „Wir wollen als Mitglied der Familie von Demokratien betrachtet werden“, sagte Wu und nahm damit Beers Worte auf, die sie in jenen drei Tagen immer wieder wählte. 

    Für die Europaabgeordnete soll die Reise aber auch als Forderung an die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten wirken, „sich hier stärker und deutlicher aufzustellen“. Dass die EU etwa „wirklich“ ein bilaterales Handelsabkommen anstrebe, auf das die Taiwaner pochen. „Es gilt, auch so eine kleine Insel nicht im Stich zu lassen, wenn es um die Verteidigung von Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geht“, sagte Beer im Gespräch mit unserer Redaktion, ohne an der offiziellen Ein-China-Politik der EU zu rütteln.

    „Peking ist gefährlicher als Moskau“, sagt der taiwanische Verteidigungsforscher Jyh-Shyang Sheu

    Nur so viel: „Ich möchte keinen 24. Februar in Taiwan erleben.“ Wenn diese Reise ein kleines bisschen dazu beitrage, „dass die Chinesen merken, wir meinen es ernst, hat sie sich schon gelohnt“, so Beer. Gleichwohl kam der Trip zu einem heiklen Zeitpunkt. Xi Jinping will sich im Herbst für eine dritte Amtszeit absegnen lassen. Seine „Null Covid“-Strategie lähmt jedoch die Wirtschaft, innenpolitisch ist Chinas Staats- und Parteichef kurz vor dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei in der Defensive.

    Könnte er als „Ablenkungsmanöver“ einen Konflikt im Ausland anzetteln wollen, wie manche Beobachter befürchten? Und wäre Taiwan ausreichend vorbereitet auf einen Angriff? Präsidentin Tsai Ing-wen verspricht zwar unaufhörlich, die Menschen Taiwans würden ihre Demokratie und Souveränität verteidigen und sich autoritären Übergriffen widersetzen. Doch wie lange könnte Taiwan bei einem feindlichen Eindringen des mächtigen Nachbarn durchhalten? Die taiwanischen Verteidigungsanlagen sind Berichten zufolge schlecht ausgerüstet und personell unterbesetzt.

    Experten fordern deshalb eine Erhöhung des Militärbudgets wie auch die Verlängerung des Pflichtwehrdiensts, der derzeit nur vier Monate Grundausbildung vorsieht.  „Peking ist gefährlicher als Moskau“, sagt der Verteidigungsforscher Jyh-Shyang Sheu. Ohnehin dürfe man nicht alle Erfahrungen aus der Ukraine „kopieren“. Taiwan als Insel sei zwar einfacher zu verteidigen, doch aufgrund der Geografie würde sich die Unterstützung aus dem Westen, vor allem aus den USA, auch schwieriger gestalten. „China wird versuchen, Taiwan zu blockieren“, prognostiziert Sheu.

    Die Solidarität des Westens mit der Ukraine beobachten sie in Taiwan mit einer gewissen Erleichterung, ob in Sachen Sanktionen gegen Russland oder militärische Hilfe. „Es dient auch als Abschreckung für China“, so Sheu. Auch Peking würde die internationalen Reaktionen genau verfolgen, etwa um ähnliche Fehler wie jene des Kremls zu vermeiden. Eine Befürchtung aber teilt der Militärexperte mit vielen seiner Kollegen. Sollten die Russen am Ende Zugeständnisse bekommen oder für sie positive Resultate verbuchen können, etwa wenn sie den Donbass übernehmen, „dann wird es noch gefährlicher“. Dies würde China zeigen, so Shen, „dass es als Großmacht am Ende siegen kann, weil der Westen rasch aufgeben wird“. 

    „Die Ukrainer haben gezeigt, dass wir alle etwas tun können, um unser Land zu schützen“

    An den meisten Tagen des Jahres züchtet Cheng-Yueh Huang Hühnchen. Der Taiwaner überwacht, wie die Küken schlüpfen, versorgt die Tiere und packt sie schlussendlich in Holzboxen, um sie von dem mittelgroßen Familienbetrieb in Yunlin an der Westküste von Zentral-Taiwan an seine Kunden auszuliefern. Zwei Millionen verkauft der 34-jährige Farmer pro Jahr in alle Ecken Taiwans.

    An sieben Tagen des Jahres übt Cheng-Yueh Huang für den militärischen Einsatz, so wie alle Männer einmal pro Jahr zum Training müssen. Huang weiß, dass er vielleicht eines Tages sein Land zu verteidigen hat. Den Angriff Russlands auf die Ukraine nahm der Taiwaner als „Weckruf“ wahr, aber auch als Motivation. „Ich dachte, es ist schwierig, sich gegen eine Supermacht zu wehren“, sagt Huang.

    „Aber die Ukrainer haben gezeigt, dass wir alle etwas tun können, um unser Land zu schützen.“ Es gibt ein wachsendes Gefühl einer taiwanischen Identität, die sich in Abgrenzung zu China definiert. Das zeigt sich vor allem bei jungen Menschen, die ihr ganzes Leben in Taiwan verbracht haben. Und umso aggressiver Peking vorgeht, desto mehr scheinen sie zusammenzurücken. „Wir haben gesehen, wie China in Hongkong seine Versprechen gebrochen hat“, sagt Cheng-Yueh Huang nur. Das Argument beendet mittlerweile jegliche Diskussion mit Zweiflern, die mit einem weichen Kurs mit Peking liebäugeln.

    Würde der Westen Taiwan beispringen?

    Ein bisschen nervös macht ihn die aktuelle Situation schon. Einerseits. Andererseits hätten sich die Menschen an die Dauer-Bedrohung gewöhnt. „Wir wachsen damit auf.“ Und es gebe ja noch immer „unser Silikon-Schild“. Er zeigt in Richtung Norden. In der Stadt Hsinchu, nur eine Autostunde von Taipeh entfernt, liegt das Hightech-Zentrum. In der Chip-Hochburg werden die besten Halbleiter der Welt produziert, unabdingbar als Glied der globalen Lieferketten, unentbehrlich für Autos, Smartphones, Spielkonsolen oder Haushaltselektronik. „Wie würden die Chinesen uns einnehmen, ohne all das zu zerstören?“ Und hätten die Chips nicht genügend Wert für die westlichen Wirtschaften, um Taiwan im Kampf gegen Peking beizuspringen?

    Ya-Chi Wang ist 46 Jahre alt, könnte aber als 30 durchgehen. Sie unterrichtet an einer Grundschule in Hsinchu die Kinder vieler Ingenieure der Überflieger-Firmen. Kürzlich bekam sie Handbücher von der Regierung überreicht, mit denen sie ihre Schüler für den Ernstfall vorbereiten sollen. Zwar kannte die Lehrerin bereits den Ort des nächstgelegenen Bunkers, in dem sie alle Schutz suchen sollen und in dem schon heute Überlebenskits bereitstehen. Essen, Wasser, Decken, solche Dinge.

    Neu sind die konkreten Erläuterungen, falls der Bombenalarm losgeht und keine Zeit mehr bleibt. So heißt es etwa, die Kinder sollen sich bei einem Angriff unter den Tischen verstecken, die Augen mit den Händen bedecken und den Mund wegen der Schockwellen öffnen. Ya-Chi Wang zeigt auf die Illustration eines kleinen Jungen, der in Flammen steht. Hier laute die Empfehlung, er solle „sich fallen lassen und am Boden rollen, bis das Feuer aus ist.“ Noch hat sie es nicht geschafft, das mit den Kindern zu üben. Sie lächelt gequält. „Nach den Sommerferien.“

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