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Tag der Arbeit: Das neue Selbstbewusstsein der Gewerkschaften

Tag der Arbeit

Das neue Selbstbewusstsein der Gewerkschaften

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    Die Gewerkschaften treten sehr selbstbewusst auf, aber sind sie auch mächtiger geworden?
    Die Gewerkschaften treten sehr selbstbewusst auf, aber sind sie auch mächtiger geworden? Foto: Daniel Reinhardt, dpa

    Der Tag der Arbeit steht diesen Montag an, der Tag aller Werktätigen. Er ist auch eine große Bühne für die Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter dieses Landes. Wobei die derzeit ohnehin nicht über einen Mangel an Wahrnehmung klagen können. Vor dem Streik ist nach dem Streik. Man kann da leicht den Überblick verlieren, wer, wo, in welcher Branche, in welchem Tarifkonflikt, den ein oder anderen Ausstand begeht. Der Sound klingt – und darum soll es hier gehen – ziemlich machtbewusst, geht zum Beispiel so: Die Verhandlungsführerin der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG Cosima Ingenschay sagte just der Süddeutschen Zeitung: "Wir könnten die Bahn wochenlang lahmlegen". Das System der Bahn sei so fragil, "wenn wir da ein paar Stellwerke rausnehmen, dann bricht alles zusammen".

    Der Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), Martin Burkert, hat im Gespräch mit unserer Redaktion zudem die Forderungen der Gewerkschaft bekräftigt und neben der Inflation auf frühere Lohnzurückhaltung verwiesen: „Die Beschäftigten haben ihren Beitrag in der Pandemie mit einem Abschluss von 1,5 Prozent geleistet, jetzt geht es darum in der Lohnentwicklung nicht abgehängt zu werden“. Der Gewerkschaftschef sagte zudem: „Vor allem braucht es für die kleinen und mittleren Einkommen ein deutliches Plus, deshalb fordern wir auch 650 Euro für alle“. Zudem müsse die Bahn im Zuge der Verkehrswende angesichts des Personalmangels als Arbeitgeber attraktiv werden. „Der Fachkräftemangel ist eines der größten Herausforderungen für Deutschland, das gilt auch für die Eisenbahnen und die Busbranche“, betonte Burkert. „Ein Faktor sind gute Löhne, daran arbeiten wir derzeit in den Tarifverhandlungen“, betonte er.

    Nun ist – ganz losgelöst von den konkreten Anliegen der EVG – die Rhetorik der Tarifkonflikte natürlich bewusst zugespitzt. Zugleich gibt es wegen der Inflation gute Gründe, mehr Lohn zu verlangen. Und der Arbeitsmarkt in Zeiten des Fachkräftemangels und der in Rente gehenden Babyboomer-Generation hilft strukturell den Angestellten, Arbeitenden und Arbeitnehmern. Aber haben die Streiks in absoluten Zahlen tatsächlich zugenommen? Sind die IG Metall, Verdi & Co. tatsächlich mächtiger geworden? Und falls ja, erwächst daraus eine neue Verantwortung? Denn die Tarifautonomie ist ein hohes Gut, sie verlangt von beiden Seiten ein besonderes Gespür für Maß und Mitte. 

    Verdi-Boss Frank Werneke: Entscheidend sind Zahl und Entschlossenheit

    Frank Werneke, der Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi), sagte unserer Redaktion zum 1. Mai: "Entscheidend für die Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften sind Zahl und Entschlossenheit ihrer Mitglieder. Mit Blick auf die Aktionen und Warnstreiks der letzten Monate können wir sagen: Dass sich daran so viele Kolleginnen und Kollegen – etwa im Öffentlichen Dienst, bei der Post, in Kitas, in Energieunternehmen, an Flughäfen, in Nahverkehrsunternehmen, im Gesundheitswesen und Banken-Servicegesellschaften – beteiligt haben, ist auch Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins der Beschäftigten."

    Diese, so Werneke weiter, träten ihren Arbeitgebern "noch entschlossener gegenüber als in den Jahren zuvor, um für starke Tariferhöhungen zur Sicherung ihrer Reallöhne zu kämpfen". Und, so schließt der Gewerkschafts-Boss, sie sehen: "Gemeinsam sind wir stark, und je mehr wir sind, umso stärker werden wir. Deshalb ist es gut, dass sich gerade jetzt sehr viele Menschen für eine Mitgliedschaft in den Gewerkschaften entscheiden.“ 

    Seit Jahresbeginn kann Verdi eigenen Angaben zufolge zwar fast 90.000 neue Mitglieder begrüßen. Im vergangenen Jahr war die Mitgliederzahl aber erneut gesunken. Im Vergleich zu 2021 hat man 2022 insgesamt mehr als 36.500 Mitglieder verloren. Der Trend der vergangenen Jahre bestätigte sich damit: Ende 2022 zählte Verdi rund 1,86 Millionen Mitglieder, 2020 waren es noch rund 1,94 Millionen. Auch andere Gewerkschaften verlieren in einer alternden Gesellschaft. Zum Jahresende 2022 hatte die IG Metall in Bayern zum Beispiel 363.500 Mitglieder – 0,6 Prozent weniger im Vorjahresvergleich. 

    IG-Metall-Bayern-Chef Horst Ott: Menschen leiden unter hoher Inflation

    Deshalb ist man aber nicht weniger selbstbewusst als gewohnt. Horst Ott, der neue Bezirksleiter der IG Metall Bayern, sagte unserer Redaktion – auch mit Blick auf ihr Selbstverständnis: "Die Stärke der IG Metall speist sich aus der Anzahl und der Mobilisierungsfähigkeit unserer Mitglieder. Die letzten Tarifrunden haben gezeigt, dass beides sehr groß ist." Die Bereitschaft der Beschäftigten, für ihre Interessen und mehr Geld auch die Arbeit niederzulegen, sei "sehr ausgeprägt". Der Grund laut Ott: "Das liegt auch daran, dass die Menschen unter der hohen Inflation leiden, während ihre Unternehmen satte Gewinne einfahren und gleichzeitig in Tarifrunden mit harten Bandagen angemessene Entgelterhöhungen verhindern wollen." 

    Er mahnt mit Blick auf den vom Fachkräftemangel dominierten Arbeitnehmermarkt an: "Die Unternehmen müssen mehr Bereitschaft entwickeln, junge Menschen mit größerem Aufwand auszubilden. Der Fachkräftemangel ist also auch hausgemacht." Perspektivisch gibt der Gewerkschafts-Chef den Arbeitgebern zudem mit, dass diese gut beraten seien "mehr in die Zufriedenheit ihrer Beschäftigten zu investieren". Dazu gehören: "gute Entgelte, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen". 

    In der internationalen Streikstatistik liegt Deutschland im unteren Mittelfeld

    Die IG Metall, betont Ott, gehe "immer mit großer Verantwortung und viel Augenmaß in jede Tarifrunde". Das bewiesen alle Tarifforderungen und -abschlüsse der vergangenen Jahre. Die entscheidende Frage für ihn ist, ob auch die Arbeitgeber bereit sind, im Wandel der Industrie Verantwortung für die heimischen Standorte und Beschäftigten zu übernehmen. 

    Die nächsten Tarifrunden werden zeigen, ob sich etwas grundsätzlich im Verhältnis zwischen Arbeitgeber-Vertretern und den Gewerkschaften verändert. Die Zahl der Streiks, das zeigt die neue Studie zur Arbeitskampfbilanz 2022, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung diese Woche vorlegte, hat sich im Vergleich zu 2021 nur "leicht erhöht". Es gab 225 Arbeitskämpfe, 2021 waren es 221 gewesen. 

    In der internationalen Streikstatistik liegt Deutschland den Angaben zufolge im unteren Mittelfeld. 2023 dagegen beginnt mit, nun ja, Schwung. Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs und Co-Autor der Studie sagt: "Vor dem Hintergrund historisch hoher Inflationsraten hat sich der Verteilungskonflikt deutlich intensiviert." Und: "Hinzu kommt, dass der zunehmende Arbeits- und Fachkräftemangel die Verhandlungsposition der Beschäftigten stärkt und damit auch die Bereitschaft fördert, sich an Arbeitskampfmaßnahmen zu beteiligen. Allerdings muss das nicht zwangsläufig auf mehr Streiks hinauslaufen. Vielmehr sind vor allem auch die Arbeitgeber in der Verantwortung, der aktuellen Arbeitsmarktlage durch realistische Angebote Rechnung zu tragen."

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