Die syrische Regierung hat nach Angaben von Aktivisten die Kontrolle über die Millionenstadt Aleppo an Rebellen verloren. Ein von der Islamistenorganisation Haiat Tahrir al-Scham (HTS) geführtes Bündnis konnte die Regierungstruppen in kürzester Zeit aus der Stadt im Nordwesten des Landes verdrängen. Mit Ausnahme von vier von kurdischen Milizen kontrollierten Stadtteilen stehe Aleppo nun vollständig unter der Kontrolle der Rebellen-Allianz, sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel-Rahman, der Deutschen Presse-Agentur.
Damit ist die zweitgrößte Stadt Syriens zum ersten Mal seit Jahren nicht mehr unter Kontrolle der Regierung von Präsident Baschar al-Assad. Einige Stadtteile werden allerdings bereits seit mehreren Jahren von kurdischen Rebellen kontrolliert. Die Übernahme von Aleppo stellt eine heftige Eskalation in dem seit 14 Jahren andauernden Bürgerkrieg dar. Nach Angaben der syrischen Staatsagentur Sana, die sich auf die Armee beruft, bereitet das Militär einen Gegenschlag vor.
Bereits seit 2011 herrscht in Syrien ein verheerender Krieg, der das Land völlig gespalten hat. Assads Regierung kontrollierte zuletzt mit Hilfe ihrer Verbündeten Russland und Iran etwa zwei Drittel des Landes. Unterschiedliche Oppositionskräfte dominieren Teile des Nordwestens und Nordostens. Eine politische Lösung für den Konflikt ist nicht in Sicht.
Große Erfolge für Rebellen in kurzer Zeit - Russland fliegt Angriffe
Mitte der Woche hatte die Allianz von Aufständischen unter der Führung der HTS eine Offensive im Nordwesten Syriens begonnen. Dorthin, in die Provinz Idlib, hatten sich die meisten Rebellengruppen zurückgezogen, nachdem die syrische Armee Aleppo im Dezember 2016 wieder erobert hatte. Jetzt konnten die Aufständischen innerhalb weniger Tage große Gebietsgewinne in der Umgebung von Idlib und Aleppo feiern.
Die HTS gilt als Nachfolger der Al-Nusra-Front, eines früheren Ablegers der Terrororganisation Al-Kaida in Syrien, distanzierte sich aber 2016 von Al-Kaida. Die Gruppierung wird unter anderem von den USA als Terrororganisation eingestuft und verfolgt Experten zufolge eine salafistisch-dschihadistische Ideologie.
Wie das Kampfgeschehen weiter verläuft, hängt auch von Assads Verbündetem Russland ab. Erstmals seit 2016 flog die russische Luftwaffe wieder Angriffe auf Aleppo.
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden die Luftangriffe auch am Sonntag fortgesetzt. Sie hätten auch Orte in der Region Idlib und in der zentralen Provinz Hama getroffen. Die Organisation mit Sitz in Großbritannien bezieht ihre Informationen von einem Netz aus Informanten vor Ort.
Aktivisten des syrischen Zivilschutzes, auch als Weißhelme bekannt, berichteten von mindestens vier Toten und 54 verletzten Zivilisten bei den Luftangriffen.
Neue Eskalation nach mehreren Jahren Stillstand
In Aleppo hatten sich bereits in den ersten Jahren des Bürgerkriegs Rebellengruppen und Truppen der Regierung sowie deren Verbündete schwere Gefechte geliefert. 2016 wurden die Rebellen aus östlichen Stadtteilen vertrieben. Russland und der Iran halfen den Regierungstruppen damals, Aleppo wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.
Zwischen 2012 und 2016 wurde die Stadt fast komplett zerstört. Der damalige Kampf um Aleppo gehörte zu den brutalsten in dem Bürgerkrieg. Teile der verwüsteten Stadt konnten später wieder aufgebaut werden. Heute leben in Aleppo etwa 2,5 Millionen Einwohner.
Zahlreiche Akteure im Bürgerkrieg
Für Syriens Machthaber Assad kam die Offensive offenbar überraschend. Beobachter gehen davon aus, dass die Rebellen eine aktuelle Schwäche der mit Assad verbündeten proiranischen Milizen und des Irans selbst ausgenutzt haben.
Neben Russland und dem Iran als Unterstützer der syrischen Regierung. ist ein weiterer Akteur die Türkei, die Rebellengruppen im Nordosten des Landes unterstützt. Russlands Präsident Wladimir Putin und der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan hatten sich 2020 auf eine Waffenruhe für Idlib geeinigt. Seitdem war die Gewalt zunächst deutlich zurückgegangen.
Der iranische Außenminister Abbas Araghtschi reiste nach Damaskus, um mit seinem syrischen Kollegen die Lage in Aleppo zu besprechen. Am Montag wird er in der Türkei erwartet.
Gefechte zwischen Kurdenmilizen und protürkischen Rebellen
Nördlich von Aleppo lieferten sich der Beobachtungsstelle zufolge kurdische Milizen und protürkische Rebellen Gefechte. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu der Türkei meldete unter Berufung auf Sicherheitskreise, die Rebellen hätte eine Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG gestartet. Damit solle verhindert werden, dass kurdische Milizen in der Region weitere Gebiete unter ihre Kontrolle bringen. Die von der YPG angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) kontrollieren Regionen in Nordsyrien. Die Türkei will seit langem den Einfluss kurdischer Milizen an ihrer Grenze schwächen und hält mit der Unterstützung von Rebellengruppen auch Gebiete in Nordsyrien besetzt.
UN-Syrienbeauftragter sieht nach neuen Kämpfen «kollektives Versagen»
«Was wir heute in Syrien sehen, ist ein Zeichen des kollektiven Versagens», sagte der UN-Sonderbeauftragten Geir Pedersen zum neuen Aufflammen der Gewalt. Er habe immer wieder davor gewarnt, bloß auf Konfliktmanagement statt auf Konfliktlösung zu setzen, sagte Pedersen. Die neuesten Entwicklungen würden nicht nur die syrische Zivilbevölkerung bedrohen, sondern auch die regionale und internationale Sicherheit.
Der Bürgerkrieg in Syrien hatte 2015 auch eine große Fluchtbewegung nach Europa ausgelöst. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion sieht nun die Nachbarländer in der Pflicht, falls Menschen vor der neuen Gewalt fliehen. «Sollten sich Fluchtbewegungen aufgrund des Vorrückens dschihadistischer Gruppierungen in Nordsyrien ergeben, so haben diese innerhalb sicherer Bereiche des Landes oder in Nachbarstaaten zu erfolgen», sagte der CDU-Politiker Alexander Throm den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Die Türkei hat als Nachbarland weltweit die meisten syrischen Flüchtling aufgenommen, zurzeit leben dort nach UN-Angaben noch rund drei Millionen Vertriebene aus Syrien.
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