Bab al-Hawa ist ein unwirtlicher Ort. Die Hitze brennt, die Straßen sind staubig. Etwa 40 Kilometer sind es von hier bis nach Idlib-Stadt, jenem Ort, der als einer der wenigen in Syrien noch von den Rebellen kontrolliert wird. Die Menschen, die hier leben, sind Geiseln eines Krieges, der seit zehn Jahren nicht enden will. Ausgerechnet Bab al-Hawa war es, der ihnen zumindest einen Hauch Hoffnung schenkte. Der Grenzübergang ist der einzig verbliebene Weg, den Helfer nehmen können, um Lieferungen an die Notleidenden zu bringen. Täglich rollt hier Lastwagen nach Lastwagen von der Türkei nach Syrien. Etwa 1000 Transporte pro Monat passieren laut UN Syrien pro Monat Bab al-Hawa. An Bord haben sie alles, was die Menschen zum Überleben brauchen: Lebensmittel, Medikamente, Zelte.
1000 Lastwagen rollen jeden Monat über Bab al-Hawa nach Syrien
Mehr als zwei Millionen Menschen, fast alles Binnenflüchtlinge, werden mit den Hilfsgütern versorgt. Bab al-Hawa ist ihre Lebensader. Doch sie könnte schon ab dem 10. Juli größtenteils versiegen. Denn dann endet das UN-Mandat, das die Öffnung des Grenzübergangs und damit auch den Weg der Helfer zu den Menschen regelt. Wieder einmal ist es Russland, das sich in seiner Rolle als Fürsprecher von Präsident Baschar al-Assad gegen die Weltgemeinschaft stellt. Und wenn Moskau seine Muskeln spielen lässt, bedeutet das für die Menschen in Syrien meist nichts Gutes. Der russische Außenminister Sergej Lawrow kündigte an, das Mandat nicht verlängern zu wollen. Mit seinem Veto hat das Land einen mächtigen Hebel in der Hand.
Für die Helfer ist dieses Spiel um Macht besonders zynisch. „Der UN-Sicherheitsrat hat die Menschen in Syrien zu lange im Stich gelassen“, klagt David Miliband, Präsident des „International Rescue Committee“, an. „Es ist an der Zeit, dass die humanitären Realitäten vor Ort zu entschlossenen und wirksamen Maßnahmen durch den Sicherheitsrat führen.“ Und er ist nicht der Einzige. „Die Hungersituation der Menschen in Syrien ist bereits heute absolut katastrophal, rund 13 Millionen Menschen sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen – die höchste Anzahl seit Beginn des Konflikts vor zehn Jahren“, sagt Konstantin Witschel, Syrien-Koordinator der Welthungerhilfe. Aktuell wird das Land von einer Dürre geplagt, die nächste schlechte Ernte zeichnet sich ab. Die Zahl der Menschen in Not, die auf Überlebenshilfe in Form von Nahrungsmitteln und Hilfe in der Landwirtschaft angewiesen sind, werde sich deshalb wohl noch mal dramatisch erhöhen. „Die Menschen haben keinerlei Reserven mehr und dürfen mit dieser Dürre nicht allein gelassen werden“, warnt Witschel. „Nahrungsmittel werden noch knapper werden, die Preise für Brot, Gemüse und Früchte werden weiter steigen und noch mehr Menschen werden humanitäre Hilfe benötigen.“ Bereits im letzten Jahr sei der Preis für Brot in Teilen Syriens um 300 Prozent gestiegen bei einer Armutsrate von fast 90 Prozent. Auch die hohen Preise für Treibstoff, die zum Betreiben von Bewässerungsanlagen benötigt werden, könnten sich die meisten Landwirte nicht leisten.
Welthungerhilfe zeichnet düsteres Szenario für die Bevölkerung in Syrien
„Eine Verlängerung und im Idealfall auch eine Wiedereröffnung der aufgrund des Drucks von Russland geschlossenen Grenzübergänge ist zwingend notwendig, um die humanitäre Lage nicht weiter zu eskalieren“, sagt Konstantin Witschel. Die Hilfe direkt über das Regime in Damaskus zu organisieren, wie Moskau dies fordert, hält er für aussichtslos. Bis heute sei keine einzige Lieferung von dort in den Norden weitergeleitet worden. „Damit setzt das Regime weiterhin die gezielte Verweigerung humanitärer Hilfe und Hunger als Waffe gegen die syrische Zivilbevölkerung ein“, sagt der Experte der Welthungerhilfe. Genau deshalb beharrt Russland auch auf der Grenzschließung: Die Kontrolle Assads über einen bedeutenden Teil der Hilfe würde seine Position gegenüber politischen Gegnern deutlich stärken. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Moskau für Assad im UN-Sicherheitsrat einsetzt. Regelmäßig blockiert der Kreml Strafmaßnahmen für Kriegsverbrechen des Regimes. Schon einmal ließ er die Zahl der geöffneten Grenzübergänge schrumpfen – bis nur noch Bab al-Hawa übrig blieb. Schon das war ein Minimal-Kompromiss.
Minister Gerd Müller übt massive Kritik an russischem Vorgehen
Auch die Bundesregierung übt massive Kritik am Vorgehen von Wladimir Putin und der möglichen Grenzschließung. „Die Androhung, eine Verlängerung der Grenzöffnung in den Norden Syriens für die humanitäre Hilfe zu blockieren, ist inakzeptabel“, sagt Entwicklungshilfe-Minister Gerd Müller. Den Menschen im Norden Syriens zu helfen, sei kein Akt der Nächstenliebe, sondern eine solidarische Pflicht. „Die grenzüberschreitende Versorgung ist für diese Frauen, Männer und Kinder überlebensnotwendig“, sagt Müller. „Eine Vielzahl der Menschen sind Binnenflüchtlinge, die vor der Gewalt des Regimes dorthin geflohen sind.“ Für sie hätte es katastrophale Folgen, würde der Transport von Hilfsgütern gekappt.
Deshalb fordert Müller: „Anstatt den einzig verbleibenden Grenzübergang zu schließen, benötigen wir mindestens zwei Übergänge. Die weitere Öffnung der Grenze für humanitäre Hilfe ist alternativlos.“ Die Weltgemeinschaft dürfe die Menschen in Syrien nicht ihrem Schicksal überlassen. Deutschland werde sein Engagement in der Region auch unter erschwerten Bedingungen fortsetzen. „Nach der EU ist Deutschland der größte Geber, und wir bleiben aktiv: Das Entwicklungsministerium hat daher in diesem Jahr über eine Milliarde Euro für die Menschen in Syrien und den stark betroffenen Nachbarländern zugesagt.“ Damit würden Perspektiven für Millionen Menschen im eigenen Land geschaffen.
Rund vier Millionen Syrer leben nach UN-Schätzungen in der Region im Norden des Landes. Die meisten sind Vertriebene, die in Lagern, halb fertigen Häusern und ähnlich ärmlichen Unterkünften ihr Leben fristen. Zudem sind die Menschen der Corona-Pandemie, die sich mit alarmierender Geschwindigkeit ausbreitet, fast schutzlos ausgeliefert. Große Teile der Gesundheitsinfrastruktur sind zerstört, sodass nicht effektiv genug auf die Pandemie reagiert werden kann. (mit dpa)