Der Präsident der größten Militärmacht der Welt hatte sich gerade auf den Weg zum Golfplatz gemacht, als sein Verteidigungsminister im Fernsehen die weiße Flagge hisste. „Es wird jede Stunde schlimmer“, beschrieb Mark Esper am Sonntag die Lage im Norden Syriens: Die 1000 US-Soldaten in der Region seien in eine „unhaltbare“ Lage geraten und würden deshalb abgezogen – „so sicher und schnell wie möglich“. Fünf Jahre lang hatte das amerikanische Militär gemeinsam mit Kurdenmilizen versucht, diesen Teil des Bürgerkriegslandes zu stabilisieren.
US-Regierungsvertreter: „Es herrscht das totale Chaos“
Am Wochenende soll bereits hunderten IS-Kämpfern die Flucht aus bislang von den Kurden bewachten Lagern gelungen sein. „Es herrscht das totale Chaos“, sagte ein hoher amerikanischer Regierungsvertreter der Washington Post. Trump wirft den Kurden vor, die USA damit in einen Krieg involvieren zu wollen. Die „Kurden könnten einige freilassen, um uns zu verwickeln“, twitterte Trump am Montag. IS-Kämpfer könnten aber „leicht“ von der Türkei oder den europäischen Staaten, aus denen sie kämen, eingefangen werden – aber sie sollten sich beeilen, schrieb der US-Präsident. Damit setzt sich der Abschied der Amerikaner aus ihrer Rolle als „Weltpolizist“ fort – eine Entwicklung, die Trump seit seiner Amtsübernahme vorantreibt und die nun weitreichende Folgen hat. „Jetzt sehen wir einen Ausblick auf eine Weltordnung ohne eine Führungsrolle der USA und wir sehen, dass eigentlich viele Probleme schwieriger zu lösen sind, wenn sich die USA zurückziehen“, sagte der Politikwissenschaftler Johannes Varwick im Deutschlandfunk. „Und ich glaube, die NATO und auch die Europäer sind verpflichtet, in dieser Situation jetzt mit Vorschlägen um die Ecke zu kommen.“
Doch damit tut sich Europa erkennbar schwer. Im Umgang mit Ankara gelang es Brüssel gestern nicht einmal, sich auf ein allgemeines Waffenembargo gegen die Türkei zu einigen. In einer von den Außenministern verabschiedeten Erklärung wird lediglich auf die Entscheidungen von Ländern wie Deutschland und Frankreich verwiesen, ab sofort keine Rüstungsexporte mehr zu genehmigen, die in dem Konflikt eingesetzt werden können. Mitgliedstaaten verpflichteten sich zu starken nationalen Positionen, heißt es.
Außenpolitik-Experten kritisieren Brüssel
Zu wenig, wie Norbert Röttgen, CDU, findet: „Die Situation zeigt ein weiteres Mal die Notwendigkeit einer Gruppe von willigen und fähigen europäischen Staaten, die Verantwortung in der Region übernimmt“, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses. Eine Einigung der EU-Außenminister auf ein Waffenembargo gegenüber der Türkei wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung gewesen.
Kritik kommt auch vom Außenpolitik-Experten der FDP, Alexander Graf Lambsdorff. „Wenn die EU glaubwürdig bleiben will, muss sich der Europäische Rat endlich dazu durchringen, die ohnehin stillstehenden EU-Beitrittsverhandlungen abzubrechen“, sagt Lambsdorff. Nicht anschließen will er sich der Forderung, die Türkei aus der Nato auszuschließen. „Weder Deutschland noch die übrigen Nato-Mitglieder können ein Interesse einer möglichen Allianz zwischen Russland, dem Iran und der Türkei in Syrien haben“, sagte er. Doch die Nato-Mitgliedschaft der Türken könnte zum Problem werden. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn warnte: „Stellen Sie sich vor, Syrien oder Alliierte von Syrien schlagen zurück und greifen die Türkei an“, sagte Asselborn. „Auf Deutsch heißt das, dass alle Nato-Länder dann einspringen müssten, um der Türkei zu helfen.“
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