Der Herbst ist heraufgezogen in Südafrika. Die Hitze des Sommers ist kühleren Temperaturen gewichen. Doch während das Wetter die Menschen am Kap langsam zur Ruhe kommen lässt, zieht politisch ein Sturm auf, der es in sich hat: 30 Jahre nach der Wahl von Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas steht seine Partei, der Afrikanische Nationalkongress (ANC), vor einem tiefen Einschnitt. Zum ersten Mal könnte der seit 1994 regierende ANC bei der Parlamentswahl am 29. Mai die absolute Mehrheit verlieren. Die Partei der einstigen Freiheitskämpfer gilt vielen Menschen im Land als abgewirtschaftet. Von der Regenbogennation, die Mandela mit der Vision eines Rechtsstaats mit Chancengleichheit als Grundlage einer inklusiven Gesellschaft gründete, ist nicht mehr viel übrig. Korruption und Vetternwirtschaft haben den Staat systematisch ausgehöhlt, staatliche Unternehmen sind bankrott, der Dienstleistungssektor ist nur bedingt funktionsfähig und die Wirtschaft strauchelt, während Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Spannungen steigen. Am Kap ist die Hoffnung geschwunden.
„Die Wahl in Südafrika gilt als Schicksalswahl“, sagt Gregor Jaecke. Der 47-Jährige hat sein Büro in Kapstadt, er leitet das Auslandsbüro Südafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung. Für ihn ist die Abstimmung nicht weniger als ein Referendum über die Zukunft des Landes. „Der ANC hat Südafrika in den vergangenen Jahren schlecht regiert und an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abgrund geführt“, sagt er. „Das Land ist ein trauriges Musterbeispiel schlechter Regierungsführung.“ Der ANC habe sich von der Befreiungsbewegung zur Bereicherungsbewegung entwickelt. Dafür könnte er nun die Quittung erhalten.
Nelson Mandela führte Südafrika in eine Demokratie
Dabei hat Südafrika durchaus Potenzial: Reich an Diamanten, Gold, Platin, Mangan und Uran verfügt das Land über enorme Wachstumsmöglichkeiten. Der Privatsektor ist robust, ebenso das institutionelle System. Und die ersten Jahre der jungen Demokratie hatten durchaus vielversprechend begonnen. Mit Mandela kam ein Politiker an die Macht, der sich um die Aussöhnung der gespaltenen Gesellschaft verdient gemacht hat. 1999 stellte er sich freiwillig nicht zur Wiederwahl, um für einen Parteikollegen Platz zu machen. Er war ein Demokrat mit Leib und Seele. Nachfolger Thabo Mbeki konnte zwar zumindest wirtschaftlich noch punkten, bleibt vielen aber als Leugner der Aids-Seuche in schlechter Erinnerung. Spätestens mit dessen Nachfolger Jacob Zuma begann im Jahr 2009 der Niedergang. Der heute 82-Jährige stand wegen Korruption, Geldwäsche und Betrug in Milliardenhöhe vor Gericht. Als Cyril Ramaphosa 2018 die Präsidentschaft übernahm, war die Hoffnung zunächst groß, dass der 71-Jährige in die Fußstapfen Mandelas treten und Fehler des ANC wiedergutmachen würde. Doch schnell stellte sich heraus, dass es dem reformorientierten Ramaphosa im mächtigen ANC-Gefüge an Entscheidungsstärke fehlt. Auch er konnte der Selbstbereicherung innerhalb der Partei kein Ende setzen.
Der Frust über die politische Klasse spiegelt sich in der niedrigen Wahlbeteiligung wider. „Inzwischen sind die Nichtwähler die größte Gruppe“, sagt Jaecke. „80 Prozent der Südafrikaner sind der Meinung, dass sich das Land in die falsche Richtung bewegt.“ Um seine Macht fürchten muss der ANC dennoch nicht – dafür ist der Zustand der südafrikanischen Opposition zu schlecht. Doch die einstige Mandela-Partei wird sich wohl einen Koalitionspartner suchen müssen. Und der könnte es in sich haben. Mit den anti-kapitalistischen „Economic Freedom Fighters“ ist eine linkspopulistische Partei am Start. „Das würde sicher dazu führen, dass in naher Zukunft keine weitreichenden Reformen für Wachstum und Beschäftigung mehr umgesetzt werden“, sagt Jaecke. „Das würde weiter zum wirtschaftlichen Verfall des Landes und zur sozialen Instabilität beitragen.“ Beobachter fürchten gar, dass Südafrika unter einer solchen Regierung ein Szenario bevorsteht, wie es Simbabwe erlebt hat – den wirtschaftlichen Bankrott des Staates.
Südafrika ist für Deutschland ein wichtiger Handelspartner
Aber auch die neue Gruppierung von Ex-Präsident Zuma könnte an einer künftigen Regierung beteiligt sein. „Inhaltlich setzt die Partei auf Enteignung ohne Kompensation, Verstaatlichung und die Stärkung traditioneller Führer zulasten demokratischer Institutionen“, sagt Jaecke. „Damit steht Zuma für all das, was das Land in der Krise am wenigsten braucht, nämlich Korruption, Klientelismus, Diebstahl, mögliche Gewalt und Anti-Rechtsstaatlichkeit.“
Für Deutschland ist die weitere Entwicklung des Landes durchaus von Belang. Auch deshalb blickt man hierzulande ganz genau auf die Wahl und ihren Ausgang. „Südafrika ist auf dem Kontinent wirtschaftlich und politisch ein Gigant“, sagt Gregor Jaecke. Das Land ist nicht nur die größte Volkswirtschaft auf dem afrikanischen Kontinent, sondern auch das am stärksten industrialisierte Land. „Südafrika ist Deutschlands wichtigster Handelspartner in Afrika“, sagt Jaecke. 600 deutsche Unternehmen sind im Land tätig. Unter anderem die Automobilindustrie weiß Südafrika seit vielen Jahren als Standort zu schätzen. Aber auch im Ringen um politische Allianzen spielt Südafrika eine wichtige Rolle: Zuletzt hatten sowohl die Europäer als auch Russland und China versucht, die Regierung von Ramaphosa an sich zu binden. Im Zeitalter der neuen Block-Rivalitäten ist es entscheidend, Verbündete zu finden. Entsprechend groß ist deshalb die Sorge, dass auch der afrikanische Stabilitätsanker am Kap ins Trudeln geraten könnte.
Schon länger macht vielen die wachsende Kriminalität große Sorgen. Die Polizeistatistiken zu Diebstählen, Einbrüchen und Gewaltverbrechen sind angsteinflößend. Allein zwischen Anfang Oktober und Ende Dezember 2023 sind in Südafrika demnach mehr als 7700 Menschen vorsätzlich getötet worden – doch nur 42 Mörder wurden im gleichen Zeitraum verurteilt.
Die Jungen zweifeln an der Demokratie
Die Hoffnung, dass der ANC irgendwann doch wieder eine charismatische Führungsfigur hervorbringt, ist groß. Zu prägend ist seine Kraft für das Land. „Der ANC ist keine normale Partei, er ist eigentlich vielmehr eine gesellschaftliche Bewegung“, sagt Jaecke. Vor allem ältere Südafrikaner rechnen der Partei ihren Kampf gegen die Apartheid bis heute hoch an. „Der ANC war es, der Südafrika in eine Demokratie überführt und Menschen jeglicher Hautfarbe die gleichen Rechte gewährt hat.“ Doch vor allem bei jüngeren Menschen ist dieser politische Vorschuss aufgebraucht. Die sogenannten „born frees“, also jene nach 1994 Geborenen, messen die Regierungspartei an der Gegenwart und weniger an der Vergangenheit. „Bei ihnen ist der Mythos der Freiheitskämpfer aufgebraucht“, sagt Jaecke. „Eigentlich sogar noch mehr: Manche sehen in der Ikone Nelson Mandela inzwischen einen Verräter.“ Die wirtschaftlichen und sozialen Versprechen konnten nur zum Teil eingelöst werden, die Arbeitslosigkeit ist gigantisch, die Chancengleichheit von Schwarz und Weiß längst noch nicht vollendet. „Das geht so weit, dass wegen der schlechten Regierungsführung des ANC gerade unter den jungen Menschen so mancher an der Demokratie an sich zweifelt, sagt Jaecke. „Demokratie muss liefern, damit Menschen an sie glauben.“
Doch das ist manchmal gar nicht so einfach. Nicht nur im Bereich der Bildung wirkt die Rassentrennung bis heute nach, festgefahrene Strukturen ändern sich nicht von allein. „Wenn man jahrzehntelang einer schwarzen Bevölkerungsmehrheit den Zugang zu guter Bildung verwehrt, dann dauert das Generationen, bis das wieder ausgeglichen ist“, sagt Jaecke. Zwar ist im Laufe der ersten Jahre nach dem Ende der Apartheit eine schwarze Mittelschicht entstanden, doch irgendwann gerieten die Fortschritte ins Stocken. „Am Ende blieben viele leere Versprechen“, sagt Jaecke – mehr politische Prosa als Brot und Butter. (mit dpa)