Frank-Walter Steinmeier erinnert sich noch gut. Vor sechs Jahren saß er hier in Israel noch als Außenminister mit dem früheren Ministerpräsidenten Shimon Peres und einer Gruppe israelischer Studenten zusammen, als eine junge Frau den Friedensnobelpreisträger fragte: „Verehrter Shimon Peres, was wird uns die Zukunft bringen?“
Peres, der 2016 im Alter von 93 Jahren starb, antwortete mit einem kleinen Gleichnis, das Steinmeier heute noch gerne zitiert: „Die Zukunft ist wie ein Kampf zweier Wölfe, der eine ist Gewalt, ist Furcht, Unterdrückung, der andere ist das Gute, ist Frieden, Hoffnung und Gerechtigkeit.“ Die Studentin, so erzählt es Steinmeier, fragte daraufhin zurück: „Und – wer gewinnt?“ Worauf Peres nur lächelte und sagte: „Der, den Du fütterst.“
In dieser Woche füttert Steinmeier selbst den guten Wolf. Dass Deutschland nach dem Mord an sechs Millionen Juden heute ein enges, freundschaftliches Verhältnis mit Israel verbindet, ist keine historische Selbstverständlichkeit, sondern so ziemlich das Gegenteil davon. Entsprechend gepflegt will diese Freundschaft sein – in Worten wie in Taten. Steinmeier fällt dabei als Bundespräsident fast zwangsläufig der Part mit den Worten zu.
Israels Staatspräsident demonstrierte einst gegen die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik. Heute herrscht Freundschaft
An den Holocaust zu erinnern, hat er deshalb schon zum Auftakt seines Staatsbesuches gesagt, den Antisemitismus zu bekämpfen, an der Seite Israels zu stehen – „all das darf für Deutschland, für uns Deutsche niemals zum leeren Ritual werden“. Reuven Rivlin, sein israelischer Kollege, hat als Student noch gegen die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik demonstriert. Inzwischen verbindet ihn mit Steinmeier auch eine enge persönliche Freundschaft.
Sie ist nicht zuletzt das Ergebnis eines jahrzehntelangen Fütterns mit guten Absichten, mit Verständnis, finanziellen Hilfen und politischen Zusagen. Israels Sicherheit, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal gesagt, sei Teil der deutschen Staatsräson.
Wobei das mit dem guten Wolf ja so eine Sache ist. Steinmeier gehörte als deutscher Außenminister zu den Architekten des umstrittenen Atomabkommens mit dem Iran, das der damalige US-Präsident Donald Trump wieder gekündigt hat und das in Israel, vorsichtig formuliert, als politisches Placebo empfunden wurde – eine Pille, die nichts wirkt, sondern eine Wirkung lediglich suggeriert. Gegen die Mullahs in Teheran hilft danach nur eine harte Hand: Sanktionen. Druck, maximale Abgrenzung, Sabotage auch.
Steinmeier dagegen vertraut nach dem Machtwechsel in den USA wieder auf die Kraft der Diplomatie, auf eine erfolgreiche Neuauflage des Abkommens – und macht daraus kein Geheimnis in Israel. Einig ist er sich mit seinem Freund Rivlin nur, dass der Iran auf keinen Fall an Atomwaffen kommen darf, mit denen er Israel auslöschen könnte. Uneins sind sie sich über den Weg: Eher auf die harte oder eher auf die softe Art?
Ob er denn noch einmal als Bundespräsident nach Israel komme, ist eine Frage, die hier niemand offen stellt, die Steinmeier auf seiner Reise aber doch diskret begleitet. So herzlich er sich am Freitag nach einem Abstecher in die Negev-Wüste von Rivlin verabschiedet, der in wenigen Tagen sein Amt aufgibt, so ungewiss ist seine eigene Zukunft im höchsten Staatsamt. Ein Hauch von Abschied liegt in der Luft, unausgesprochen, aber spürbar.
Wird Steinmeier noch einmal als Bundespräsident nach Israel kommen?
Mit seiner Ankündigung, trotz unsicherer Mehrheitsverhältnisse für eine zweite Amtszeit zu kandidieren, hat Steinmeier das politische Berlin im Mai nicht nur überrascht, er hat es regelrecht überrumpelt. Entsprechend dissonant waren die Reaktionen: War es ein genialer Schachzug oder ein dreistes Bubenstück, das am Ende auch noch das Amt beschädigt? Der Bundespräsident selbst schweigt dazu, zumindest öffentlich. Andererseits: Haben nicht auch zwei seiner Vorgänger, Horst Köhler und Joachim Gauck, zu einem ähnlich frühen Zeitpunkt ihre Pläne öffentlich gemacht? Der eine, indem er ebenfalls sein Interesse an einer zweiten Amtszeit signalisierte, der andere, indem er auf eben jene verzichtete?
Bis zu der Entscheidung, die er nicht in der Hand hat, präsidiert Steinmeier jedenfalls weiter, als habe es diese Debatten nie gegeben. Er steigt zum Beispiel im Negev aus dem Hubschrauber und besucht mit Rivlin ein Forschungszentrum, das der unwirtlichen Region mit Agrar- und Bewässerungsprojekten etwas mehr Leben abzutrotzen versucht. Ganz im Sinne von Staatsgründer David Ben-Gurion, der die Wüste zum Blühen bringen wollte, und an dessen Grab im Negev Steinmeier zum Abschluss seiner Reise noch einen Moment innehält und drei weiße Rosen niederlegt. Alles normal, ein Präsident auf Staatsbesuch.
Unterschätzt hat man Frank-Walter Steinmeier dabei ja häufig. Dass sich hinter dem immer so ruhigen, ausgleichenden Mann einer verbirgt, der seine Interessen entschlossen durchzusetzen weiß, bewies Steinmeier bereits nach der Bundestagswahl 2009. Mit 23 Prozent fuhr er damals das schlechteste Ergebnis ein, das ein Kanzlerkandidat der SPD bis dahin je erzielt hatte. Den ungeschriebenen Gesetzen der Politik, nach denen eine solche Niederlage für gewöhnlich zu einem Rücktritt oder zum Rückzug in die zweite oder dritte Reihe führt, mochte Steinmeier dennoch nicht folgen.
Im Gegenteil. Zwei Tage nach der Schlappe sicherte er sich den Fraktionsvorsitz der SPD im Bundestag – ein Schachzug von geradezu machiavellistischer Güte. Vier Jahre später war er zum zweiten Mal Außenminister einer Großen Koalition, acht Jahre später Bundespräsident.
Frank-Walter Steinmeier will weiter Bundespräsident sein. Ob er eine zweite Amtszeit bekommt, das ist die große Frage
Mit seiner neuerlichen Bewerbung für das höchste Amt im Staat verhält es sich nun ähnlich. Steinmeier hat Fakten geschaffen, an denen keiner mehr vorbei kann, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, er wolle dem Präsidenten aus schnöden parteitaktischen Überlegungen ans Leder. Rein rechnerisch hat die SPD im Präsidentenpoker zwar das schlechtere Blatt als die Union oder die Grünen, weil sie in der nächsten Bundesversammlung vermutlich bloß noch die drittstärkste Kraft sein wird. „Doch wen auch immer wir nominieren“ – sagt ein Mann mit Einfluss in der CDU, der nicht weiß, ob er Steinmeier für seine Chuzpe bewundern oder sich über sein Vorpreschen ärgern soll – „man wird uns vorwerfen, dass wir einen populären Präsidenten stoppen wollen.“ Namen potenzieller Nachfolger kursieren viele, von der CSU-Frau Ilse Aigner über die Grünen Katrin Göring-Eckardt und Winfried Kretschmann bis zu Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer von der CDU. Der amtierende Präsident allerdings ist ausgesprochen beliebt bei den Deutschen, und das ist am Ende sein vielleicht größter Trumpf. Einen wie ihn wird man nicht so leicht los.
Steinmeier ist erst der fünfte Bundespräsident, der überhaupt eine zweite Amtszeit anstrebt – und der erste, der es ohne Netz und doppelten Boden versucht. Ein Risiko, natürlich, aber eines, das er in Kauf nimmt. Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Richard von Weizsäcker und Horst Köhler konnten sich ihrer Wiederwahl sicher sein, so klar waren die Mehrheitsverhältnisse, so verlässlich die Absprachen.
Steinmeier jedoch hat jenseits aller taktischen Zwänge ein weiteres, nun ja, Handicap: Er ist ein Mann. Denn wenn, zum Beispiel, Armin Laschet Kanzler würde und Wolfgang Schäuble Bundestagspräsident bliebe, wäre mit ihm als Staatsoberhaupt die komplette Spitze des Landes, zu der ja auch noch Stephan Harbarth als Präsident des Bundesverfassungsgerichtes gehört, komplett in männlicher Hand. Vier etwas reifere, in Ehren ergraute Männer und keine Frau? Und das in der Gender-Republik Deutschland? Vor allem die Grünen dürften alles daran setzen, eine Frau ins Schloss Bellevue zu schicken, wenn ihre Kandidatin Annalena Baerbock schon nicht Kanzlerin werden sollte.
Der Bundespräsident ist unspektakulär - und genau das könnte seine Popularität erklären
Steinmeier ist kein Intellektueller wie von Weizsäcker, kein begnadeter Redner wie Gauck, kein Menschenfischer wie Johannes Rau, auch wenn dessen Lebensmotto „versöhnen statt spalten“ seinem Verständnis von einer Präsidentschaft vielleicht am nächsten kommt. Er ist ein solider, ein unspektakulärer Präsident, der seine Popularität womöglich genau jenen Eigenschaften verdankt. In einer Zeit, in der sich die gesellschaftlichen Fliehkräfte rasant beschleunigt haben, versucht er das Land mit ruhiger Hand zusammenzuhalten und die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen, vor allem gegen die von rechts. „Wir dürfen nicht vergessen“, sagt er bei einer Ordensverleihung in Tel Aviv, „dass Synagogen in Deutschland weiterhin Polizeischutz benötigen und dass vor zwei Jahren an Jom Kippur nur durch ein Wunder ein Massaker in Halle verhindert wurde.“
Gleichzeitig hat die Pandemie seine Möglichkeiten, auf Land und Leute einzuwirken, dramatisch eingeschränkt. Videokonferenzen und Fernsehansprachen ersetzen eben nicht persönliche Treffen – und nicht jedem Staatsoberhaupt ist die Gabe des Österreichers Alexander van der Bellen gegeben, der seine Landsleute mit herzlichen und aufmunternden Videoclips in den sozialen Medien durch die Corona-Monate begleitet hat und dadurch noch beliebter geworden ist. Steinmeier, der Vernunftmensch, braucht den Austausch, den Diskurs, das Reisen auch – und sei es nur mit Maske. Dem Besuch in Israel hat er nicht nur wegen seiner Freundschaft mit Rivlin entgegen- gefiebert. Er will auch als Präsident wahrgenommen werden.
Im Garten von Rivlins Residenz pflanzte er zum Auftakt seines Besuches einen Apfelbaum – eine Ehre, die längst nicht jedem Staatsgast in Israel zuteil wird. Steinmeiers Baum steht direkt neben dem eines anderen, ebenfalls schon etwas grau gewordenen Herren, der häufig unterschätzt wurde, aber bis heute ein Unvollendeter geblieben ist. Es ist der Baum von Prinz Charles.