Trotz schlechter Umfragewerte und dem miesen Ansehen der Ampel-Bundesregierung sehen Experten durchaus Chancen für Cem Özdemir (Grüne) bei der nächsten Landtagswahl in Baden-Württemberg. «Das Rennen ist offen - aber Özdemir muss einen Hundertmeterlauf zehn Meter hinter der Startlinie beginnen», sagte der Freiburger Politikexperte Michael Wehner der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart.
Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir hatte am Freitag verkündet, er wolle Spitzenkandidat der Grünen bei der nächsten Landtagswahl in Baden-Württemberg werden. In einem Brief an die Bürgerinnen und Bürger schrieb Özdemir, er wolle ihnen als Ministerpräsident dienen und alles für das Land geben. Amtsinhaber Winfried Kretschmann (Grüne) tritt 2026 nach 15 Jahren als Ministerpräsident nicht mehr an. Der wohl aussichtsreichste Herausforderer Özdemirs dürfte der neue CDU-Landesvorsitzende und Fraktionsvorsitzende Manuel Hagel werden.
Politologe: Derzeit wenig Interesse an Umweltthemen
Ein Nachteil für Özdemir ist aus Sicht von Politologe Wehner, der als Professor an der Universität Freiburg lehrt und die dortige Außenstelle der Landeszentrale für politische Bildung leitet, das aktuelle Image der Grünen. «Die Grünen sind derzeit mit dem Etikett der Verbotspartei belegt», sagte Wehner. Zudem seien mit Migration, Sicherheit und Wirtschaft Themen auf der Tagesordnung, die man nicht mit der Partei verbinde. «Bei den aktuellen Rahmenbedingungen wird Ökologie als politisches Problem zweiter Ordnung wahrgenommen», erklärte Wehner.
Als Malus sieht Wehner auch den schlechten Ruf der Ampelregierung, der Özdemir seit 2021 als Bundeslandwirtschaftsminister angehört. Deren Ansehen sei ein Problem für den Politiker. Er geht aber davon aus, dass Özdemirs Bekanntheit und seine politischen Ansichten das aufwiegen können. «Der Bekanntheitsbonus und der realpolitische Bonus überwiegt aus meiner Sicht die mögliche schlechte Bewertung seiner Zeit in der Ampelkoalition», sagte der Politologe.
Bundestagswahl dürfte entscheidende Rolle spielen
Nicht gerade rosig sehen zudem die Umfragewerte für die Grünen in Baden-Württemberg aus. In Meinungsumfragen lag die CDU im Südwesten zuletzt mit 16 Prozentpunkten Vorsprung deutlich vor den Grünen - auch bei der Europawahl musste die Ökopartei teils heftige Verluste in allen Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs hinnehmen.
Umfragen könnten sich aber auch schnell ändern, sagte Politikexperte Wehner - auch wenn der Abstand derzeit groß sei. Bis zur Wahl im Frühjahr 2026 gingen noch einige Tage ins Land, auch die Themenkonjunktur könne sich noch verändern. «Eine entscheidende Rolle für den Ausgang der Wahl wird auch die Bundestagswahl spielen und die Frage, wer danach im Bund regiert und wie diese Regierung wahrgenommen wird.» Denn bricht die Ampelkoalition nicht vorzeitig, findet die nächste Bundestagswahl im September 2025 statt und damit recht knapp vor der Landtagswahl im Südwesten.
«Ein sehr guter Redner»
«Cem Özdemir ist als Berliner Polit-Promi schon lange auf der politischen Bühne sichtbar», sagte der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim dem «Südkurier» (Samstag). Er sei in Debatten geübt und ein sehr guter Redner. Relativ viele Menschen dürften von ihm bereits eine Meinung haben. «Özdemir muss vor allem zwei Dinge vermitteln: Menschen müssen ihm abnehmen, dass er sich wirklich für Landespolitik interessiert», sagte Brettschneider. Und sie müssten ihm abnehmen, dass er mit der Ampelregierung unzufrieden ist, obwohl er Teil von ihr ist.
Kritik aus der CDU an Özdemir
Nach der Ankündigung der Spitzenkandidatur Özdemirs forderte der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, den Minister auf, seine Aufgaben im Bund nicht zu vernachlässigen. «Die Landwirte haben einen Anspruch auf einen Minister, der sich mit ganzer Kraft ihren Sorgen und Nöten widmet», sagte Frei der «Rheinischen Post» (Samstag). Er warf Özdemir vor, dem «Ampel-Chaos» in Berlin entfliehen zu wollen. Anstatt sich jedoch vorzeitig Gedanken darüber zu machen, «wie seine persönliche Karriere nach dem Ende dieser Bundesregierung weitergehen könnte, sollte er sich vor allem um seine Aufgaben in Berlin kümmern».
Türkische Gemeinde sieht in Özdemir-Kandidatur Signal
Die Türkische Gemeinde in Deutschland begrüßt die Kandidatur Özdemirs. Diese sei «in vielerlei Hinsicht ein wichtiges Signal, darunter auch für Menschen mit Migrationsgeschichte. Sie ist eine Erfolgsgeschichte für unser Land», sagte der Vorsitzende Gökay Sofuoglu dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). «Cem Özdemir hat sich als Politiker und als Vertreter der schwäbischen Kultur einen Namen gemacht. Und ich kenne ihn als lupenreinen Demokraten, der mit Differenzen umgehen kann. Er wandelt auf den Spuren von Winfried Kretschmann, Erwin Teufel und Lothar Späth und könnte sich zu einem Landesvater entwickeln.»
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