Es gibt die zwei Gesichter des Olaf Scholz. Wenn die Diktiergeräte oder Kameras ausgeschaltet sind, redet der Finanzminister Tacheles, macht Scherze und platziert Spitzen. Er kichert dann vielsagend in sich hinein. Sind die Mikrofone eingeschaltet, zeigt sich wie auf Knopfdruck das andere Gesicht: Ein sachlicher, spröder Norddeutscher erklärt in Politikersätzen roboterhaft die Welt. „Scholzomat“ wird er deswegen genannt. Im Endspurt um den SPD-Vorsitz schickt Scholz den Automaten in die Zwangspause.
Der 61-Jährige hat den Wahlkampf um die Herzen der Genossen aufgenommen. In den letzten Runden mit dem verbliebenen Konkurrenten-Duo setzt er nach, wird manchmal lauter, widerspricht den Parteifreunden im Rennen um den sozialdemokratischen Thron. Der neue Olaf Scholz appelliert sogar an den Stolz der Genossen und ruft sie auf, sich zu freuen. Freude und SPD – das ist seit der Abwahl Gerhard Schröders vor anderthalb Jahrzehnten ein gegensätzliches Paar. „Freuen ist auch in Ordnung“, findet der Vizekanzler und meint damit den Erfolg der Grundrente. Den Zuschlag für Rentner mit kleinen Renten hat die SPD der Union schwer abgerungen, was bei den Konservativen gerade für reichlich schlechte Stimmung sorgt.
Scholz-Konkurrent Walter-Borjans fordert den Personalwechsel bei der SPD
Scholz versucht, mit seiner Angriffslust aus der Ecke des Weiter-So zu kommen, in die ihn seine innerparteilichen Gegner stellen wollten. Der immer gleiche Trott im Gefolge von CDU und CSU, der die einstige Kanzlerpartei auf Umfragewerte von 15 Prozent hat abstürzen lassen. Der linke Flügel und die Jungsozialisten setzen deshalb auf den früheren nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans und die Bundestagsabgeordnete Saskia Esken. „Die Menschen wollen auch sehen, dass wir personell einen Neuanfang machen“, sagte Walter-Borjans beim öffentlichen Finale der langen Personalsuche der Sozialdemokraten am Montagabend.
Anfang September waren acht Paare und ein Einzelkandidat an den Start gegangen. Übrig blieben Walter-Borjans und Esken sowie Scholz und seine Mitstreiterin Klara Geywitz. Erstere stehen für ein vorzeitiges Ende der Großen Koalition, Letztere wollen sie zu Ende führen. Beide Paare eint, dass die Frauen die Nebenrolle spielen. Der frühere Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, Walter-Borjans, hat sich einen Namen gemacht, weil er CDs mit den Daten von Steuerhinterziehern aufkaufen ließ und damit vielen unehrlichen Reichen große Angst einjagte. Der Robin Hood aus dem Rheinland hat damit viele Herzen erobert.
Kampf um SPD-Vorsitz: Es geht auch um die Frage der Kanzlerkandidatur
Scholz und Geywitz bringen dennoch einen großen Vorteil mit, den sie ihren Mitbewerbern voraushaben: SPD-Mitglieder und Wähler bekämen mit Scholz einen Kandidaten, der Kanzler werden will. Was derzeit noch wie eine schräge Vision klingt, könnte 2021 schon realistischer werden. Dann geht die bei den Wählern noch immer sehr geschätzte Angela Merkel von der CDU in den Ruhestand und die Karten werden neu gemischt. Annegret Kramp-Karrenbauer und Friedrich Merz genießen noch lange nicht einen solch starken Rückhalt in der Bevölkerung wie Merkel. Scholz belegt in den Umfragen der beliebtesten Politiker regelmäßig vordere Ränge. Kramp-Karrenbauer hingegen ist in der Rangfolge abgestürzt.
Bei Walter-Borjans gibt es diese direkte Verbindung zwischen Parteivorsitz und Kanzlerkandidat nicht. Der frühere Landesfinanzminister ist weit unbekannter als der amtierende Bundesfinanzminister. Vor der nächsten Wahl müsste bei ihm noch ein SPD-Spitzenkandidat gekürt werden. Ließen er und Esken das Regierungsbündnis mit der Union platzen und würden Neuwahlen ausgerufen, käme die SPD erneut unter erheblichen Zeitdruck. Schon die vergangenen Wahlkämpfe wurden durch das Willy-Brandt-Haus schlecht geführt. Die Vorbereitung war schwach.
SPD-Mitglieder stimmen bis zum 29. November ab
Weil Olaf Scholz weiß, dass Eigenlob stinkt, überließ er es im Abschlussduell seiner Mitstreiterin Geywitz, ihn gegen parteiinterne Kritik an seinen Kanzler-Ambitionen zu verteidigen. „Ich lasse es dir nicht durchgehen“, sagte die 43-Jährige an die Adresse von Walter-Borjans, „dass du ständig sagst, das größte existierende Problem der Sozialdemokratie ist Olaf Scholz.“ Sie findet es „ziemlich logisch“, wenn der „beliebteste Sozialdemokrat“ den Kampf um das Kanzleramt aufnehmen will.
Wie sich die 425.000 Mitglieder bis zum 29. November entscheiden werden, ist trotz der Vorteile für Scholz nicht ausgemacht. Einen Tag später soll das Ergebnis verkündet werden. In der Vorwahl trennte die beiden Duos nur ein Prozentpunkt. Die Popularität von Scholz hatte ihm bei den Genossen nicht den erhofften Schub geliefert.
Endgültig bestätigen muss das Sieger-Paar ohnehin noch der Parteitag am Nikolaus-Wochenende in Berlin. Verliert Scholz, wird er in seiner Karriere nicht mehr über den Posten des Vizekanzlers hinauskommen. In Hamburg war er als Bürgermeister bereits Regierungschef. Er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dies auch noch auf Bundesebene zu werden. Den „Scholzomaten“ hat er deshalb abgestellt und tritt nicht mehr als janusköpfiger Mann der zwei Gesichter auf. Im alten Rom wurden übrigens die Tore des Janustempels geöffnet, wenn ein Feldzug bevorstand. Geschlossen wurden die Tore erst, wenn er siegreich beendet wurde.
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