Die gewaltige dunkelblaue Limousine zieht die Blicke auf sich – vor allem das Preisschild verblüfft. „Da müsste ich nur ungefähr bis zur Rente mein ganzes Gehalt überweisen“, sagt die junge Delegierte mit dem Kurzhaarschnitt. Trocken antwortet ihr Begleiter: „Oder Ministerin werden, dann kriegst du den als Dienstwagen.“ Exakt 143.689 Euro und sechs Cent kostet der Audi – so wie er dasteht, mitten im Foyer der Berliner Messehalle, die passenderweise den Spottnamen „schönste Garage Berlins“ trägt. Wo gerade die SPD beim richtungsweisenden Parteitag mit sich ringt. Zwei Rolltreppen höher geht es um die Frage, ob die Zukunft der Sozialdemokratie in der Opposition liegt – oder aber in der Regierung, in einer Neuauflage der Großen Koalition. Der Ingolstädter Autobauer, der sich wie andere Unternehmen und Verbände im Foyer präsentiert, scheint auf Letzteres zu setzen. Und stellt mit dem Modell A8 in Langversion gleich ein typisches Regierungsfahrzeug aus.
Doch die Straße, die zu einer neuen GroKo führt, das zeigt sich beim Parteitag immer wieder, ist lang und holprig. Denn dass die SPD einer Fortsetzung des gemeinsamen Regierungsbündnisses mit CDU und CSU zustimmt, hatte Parteichef Martin Schulz kategorisch ausgeschlossen, als am 24. September gerade die ersten Hochrechnungen über die Bildschirme im Berliner Willy-Brandt-Haus geflimmert waren. Am Ende des Wahlabends stand fest: Mit 20,5 Prozent der Wählerstimmen hatte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ihr schlechtestes Ergebnis in der gesamten Nachkriegszeit eingefahren.
Ein Schock, der längst noch nicht verdaut ist, wie sich beim Parteitag immer wieder zeigt. Zur Erneuerung in der Opposition schien es nach der Schlappe keine Alternative zu geben, auch weil schnell alles auf eine Jamaika-Koalition deutete. Die Union sondierte mit FDP und Grünen. Doch als nach wochenlangen Gesprächen FDP-Chef Christian Lindner das Jamaika-Projekt platzen ließ, änderte sich für die SPD plötzlich alles. Derart „kalt erwischt“, wie es Fraktionschefin Andrea Nahles beschreibt, musste sich die SPD ausgerechnet von einem aus den eigenen Reihen, von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, an ihre staatspolitische Verantwortung erinnern lassen. Innerhalb weniger Tage rückten Parteichef Martin Schulz und das SPD-Präsidium von ihrem klaren Nein zum Mitregieren ab. Beim Parteitag nun muss sich die SPD entscheiden. Gespräche mit der Union oder weiter auf Kurs Opposition, wie es vor allem die Jusos fordern. Kevin Kühnert, der Vorsitzende des SPD-Nachwuchses, sieht nicht weniger als die Existenz der Partei gefährdet. „Wir haben ein Interesse daran, dass hier noch was übrig bleibt von diesem Laden, verdammt noch mal“, warnt er auf dem Parteitag.
Schulz entschuldigt sich bei Parteitag
Der angeschlagene Parteichef Martin Schulz wirbt fast verzweifelt für den Leitantrag der SPD-Spitze, in ergebnisoffene Gespräche mit der Union einzutreten: „Wir müssen nicht um jeden Preis regieren. Aber wir dürfen auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen.“ Entscheidend sei, welche sozialdemokratischen Inhalte durchgesetzt werden könnten – in welcher Regierungsform dies auch sein möge.
Für Schulz geht es in Berlin auch um die eigene Zukunft. Er stellt sich zur Wiederwahl als Parteivorsitzender. 81,9 Prozent der Delegierten geben ihm schließlich ihre Stimme. Im März war er noch mit sagenhaften 100 Prozent der Delegiertenstimmen gewählt worden, doch der zeitweise überbordenden Begeisterung um seine Kanzlerkandidatur folgte das verheerende Ergebnis bei der Bundestagswahl.
Für seinen Anteil „an dieser bitteren Niederlage“ entschuldigt sich Schulz bei den rund 600 Delegierten: „Ich kann die Uhr nicht zurückdrehen, aber ich möchte als Parteivorsitzender meinen Beitrag dazu leisten, dass wir es besser machen.“ Die Partei habe „nicht nur diese Bundestagswahl“ verloren, sondern die letzten vier – und seit 1998 zehn Millionen Wähler, „fast die Hälfte unserer Wählerschaft“. Laut Schulz hat es die SPD nicht geschafft, die Frage ausreichend zu beantworten: „Wofür steht die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert?“
Schulz will das ändern. Vor allem, so Schulz, müsse die SPD für eine Stärkung Europas stehen. Der SPD-Vorsitzende will die Europäische Union bis ins Jahr 2025 zu „Vereinigten Staaten von Europa mit einem gemeinsamen Verfassungsvertrag“ umwandeln. Mitgliedstaaten, die dem Verfassungsvertrag nicht zustimmen, „verlassen dann automatisch die EU“, so Schulz. „Leute, Europa ist unsere Lebensversicherung“, ruft Schulz in seinem rheinischen Singsang in die Halle. Das flammende Plädoyer des früheren EU-Parlamentspräsidenten für Europa wird kräftig beklatscht. Doch bei der anschließenden Aussprache wird deutlich, dass manche Genossen dahinter vor allem den Versuch sehen, die SPD mit dem Appell an die europapolitische Verantwortung in eine neue Große Koalition zu führen.
Jusos scheitern bei SPD-Parteitag mit ihrem Antrag
Ein Juso-Mann wirft ihm vor: „Martin, du bist immer wieder eingebrochen. Wer soll das hier jetzt noch glauben?“ Die Rednerliste ist lang, und erbitterte GroKo-Gegner wechseln sich ab mit jenen, die sich Gesprächen mit der Union nicht verschließen wollen. Darunter viele Sozialdemokraten aus der ersten Reihe.
Olaf Scholz etwa, Hamburgs Erster Bürgermeister, sagt mit Blick auf die gescheiterte Jamaika-Runde: „Wenn die das nicht hinkriegen, können wir uns nicht verweigern.“ Auch Stephan Weil, der wiedergewählte Ministerpräsident von Niedersachsen, hat keine Angst vor einer Großen Koalition, gerade hat er in Hannover selbst eine geschlossen. „Eine Partei, die um Verantwortung kämpft und die auch bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, braucht sich vor nichts zu fürchten.“ Andrea Nahles richtet sich an die Jusos mit der Frage: „Was soll am Umsetzen unseres Wahlprogramms in Realpolitik unehrlich sein?“
Auch abseits der Debatte im großen Saal zeigt sich, wie gespalten die Meinungen sind. Bei 36 Stunden lang im Wasserbad gegartem Rindfleisch auf Kartoffelstampf, die Portion zu neun Euro, berichten SPD-Delegierte von aufgeheizten Diskussionen in ihren Orts- und Kreisverbänden. Von altgedienten Genossen, die mit Austritt drohen, sollte die SPD unter Schulz wieder eine Merkel-Regierung ermöglichen, ist ebenso die Rede wie von glühenden Befürwortern einer neuen GroKo. Auch die Möglichkeiten dazwischen, etwa die Tolerierung einer Minderheitsregierung oder die „Kenia-Variante“, eine Regierung von SPD, Union und Grünen, hätten durchaus ihre Anhänger.
Der Parteitag geht in den Abend. Mit ihrem Antrag, eine Große Koalition von vornherein auszuschließen, scheitern die Jusos schließlich. Die SPD kann in ergebnisoffene Gespräche mit der Union gehen. Über eine Aufnahme von Koalitionsverhandlungen aber muss im kommenden Jahr ein Sonderparteitag entscheiden. Weitere Diskussionen sind also garantiert vor einer möglichen GroKo.
Am Audi-Stand ist es sehr ruhig geworden – vielleicht will sich niemand nachsagen lassen, er träume schon von einer Regierungslimousine.
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