Den Roten graut es vor diesem noch so jungen Jahr. Nichts weniger als die Zukunft steht auf dem Spiel und das ausgerechnet dort, wo die so wechselvolle wie stolze Geschichte der SPD einst begann: im Osten Deutschlands. 1863 gründete sich im sächsischen Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, im thüringischen Eisenach entstand 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Bald schlossen sich die beiden zur späteren Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zusammen. Doch das Ost-Kind SPD erwartet, darauf deuten alle Umfragen hin, bei den Landtagswahlen im Herbst in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ein Debakel von historischem Ausmaß.
Für Panik sorgen nicht die Schwarzen, auch wenn CDU und CSU in der bundesweiten Wählergunst weit vorn liegen. Der sozialdemokratische Albtraum ist blau, so wie die Balken der AfD in den Umfrage-Grafiken. In allen drei Ländern sahen die Demoskopen die Rechtspopulisten zuletzt an der Spitze. Besonders düster aber sieht es für die SPD in Sachsen aus. Wo ihre Wiege stand, droht der politische Tod. Laut der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey bekämen die sächsischen Genossen nur noch drei Prozent. Damit würde die SPD zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik in einem Landtag nicht mehr vertreten sein. Ein schlechteres Omen für die Bundestagswahl im Jahr darauf wäre kaum denkbar.
Petra Köpping ist Spitzenkandidatin der Sachsen-SPD, aktuell außerdem Sozialministerin in der schwarz-grün-roten Koalitionsregierung in Leipzig. Wer die Schuld an der katastrophalen Lage trägt, ist für sie klar - die im Bund regierende Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP unter der Führung ihres Genossen Olaf Scholz. "Die Bundesregierung hat die Erwartungen vieler Menschen enttäuscht - gerade hier im Osten", sagte Köpping. Bei den zahlreichen Veränderungen hätten viele Menschen das Gefühl, dass nicht an sie gedacht werde, sagt die sächsische Sozialministerin: "Nach vielen Jahren des Umbruchs haben die Leute sehr feine Antennen dafür. Ihnen müssen wir Sicherheit geben."
Abrechnung mit der Ampel und der SPD-Bundesspitze
Für die Bundes-SPD ist Köppings Abrechnung starker Tobak. Ein umfassendes Sicherheitsversprechen an die Bürger gehört zur sozialdemokratischen DNA. Für eine Kurskorrektur drängt die Zeit. Schon in einem halben Jahr droht der SPD bei den Europawahlen Ungemach, verzweifelt wird im Willy-Brandt-Haus nach Ideen gesucht, den Schaden wenigstens zu begrenzen. "Jedem Tierchen sein Pläsierchen", sagen hochrangige SPD-Mitglieder manchmal, sei das inoffizielle Motto ihrer "Fortschrittskoalition" mit den ungleichen Partnern Grüne und FDP. Immer mehr Genossen halten das Prinzip inzwischen für gescheitert.
Manches Ampelprojekt sei vielleicht nicht falsch, aber zum falschen Zeitpunkt verfolgt worden, ist hinter vorgehaltener Hand zu hören: das Heizungsgesetz, die Abschaltung der letzten Atomkraftwerke während der schlimmsten Energiekrise, ein Selbstbestimmungsgesetz, das einmal jährlich den Wechsel des Geschlechts per Sprechakt ermöglicht, die sperrige Kindergrundsicherung. Angesichts der multiplen Krisen mit Kriegen in der Ukraine und in Nahost, mit Inflation und Energiekrise fehle zu oft der Blick für die Dinge, die die Wähler wirklich beschäftigten, heißt es.
Hubertus Heils Rolle rückwärts beim Bürgergeld
Es ist kein Zufall, dass Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil - einer der strategisch erfahrensten Sozialdemokraten - beim Bürgergeld gerade eine erstaunliche Rolle rückwärts hinlegt. Erst setzte er den sehnlichen Wunsch des linken Parteiflügels pflichtschuldig um und entschärfte die als zu hart empfundenen Hartz-Reformen des damaligen SPD-Kanzlers Gerhard Schröder. Doch jetzt, nur wenige Monate später, kündigt er wieder schärfere Sanktionen für Job-Verweigerer an. Heil weiß, dass der Wind sich gedreht hat. Wer wirklich Arbeit sucht, bekommt sie auch, so sind viele Bürger überzeugt. Arbeits- und Fachkräfte fehlen überall. Auch im Osten.
Das kräftig gestiegene Bürgergeld, so glauben viele im Land, halte manche Menschen eher davon ab, selbst ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Und - auch wenn sich viele bei der SPD scheuen das auszusprechen - es sind überproportional viele Menschen mit Migrationshintergrund, die davon profitieren. Was wiederum die AfD für ihre Zwecke eiskalt zu nutzen weiß. Ähnlich läuft es in der Asyl-Debatte. Auch Kommunalpolitiker aus der SPD warnen seit Monaten, dass sie die Unterbringung und Versorgung der zahlreichen Flüchtlinge kaum mehr bewältigen können. Doch Nancy Faeser, zuständige SPD-Innenministerin, hat vollmundigen Ankündigungen, den Kurs bei der illegalen Zuwanderung zu verschärfen, noch keine echten Taten folgen lassen. Denn der linke Parteiflügel wehrt sich erbittert gegen Richtungsänderungen, etwa bei Bürgergeld und Zuwanderung.
AfD verbieten? Davor warnt der Ost-Experte der SPD
SPD-Chefin Saskia Esken, die mit Lars Klingbeil die Parteispitze bildet, würde der Bedrohung durch die AfD am liebsten durch ein Verbot begegnen. Davon rät ihr Erfurter Genosse Carsten Schneider dringend ab. Der Ost-Beauftragte der Bundesregierung sieht die Gefahr, dass die Solidarität mit der AfD dann nur noch steigen würde. Und schließlich ist da ja noch Sahra Wagenknecht, die hohe Sozialleistungen fordert, aber nicht mit offenen Grenzen zu vereinbaren hält.
Der Druck auf Olaf Scholz wächst mit jedem Tag. Zumal mit Boris Pistorius auch ein denkbarer Ersatzkanzler bereitstünde. Der Verteidigungsminister ist nicht nur in der Bundeswehr anerkannt, sondern auch seit Monaten populärster Politiker des Landes. Für den Kanzler rächt sich nun endgültig, dass er nicht darauf bestanden hat, auch Parteichef zu werden. Denn so wird es schwer für ihn, die bockigen Sozialdemokraten auf einen Kurs zu lenken, der in der breiten Mitte der Gesellschaft mehr Zustimmung findet. Scholz muss sich jetzt durchsetzen, auch gegen den Widerstand der Ampelpartner. Sonst droht er als derjenige in die Parteigeschichte einzugehen, unter dessen Verantwortung an der sächsischen Wiege der SPD ihr Sterben begann.