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Lesetipp: "Ganz neue Dimension erreicht": Wie sich Antisemitismus auf TikTok verbreitet

Lesetipp

"Ganz neue Dimension erreicht": Wie sich Antisemitismus auf TikTok verbreitet

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    Besonders junge Menschen nutzen TikTok:  Etwa 60 Prozent sind unter 30, die Hälfte davon minderjährig.
    Besonders junge Menschen nutzen TikTok: Etwa 60 Prozent sind unter 30, die Hälfte davon minderjährig. Foto: Marijan Murat, dpa

    Wenn Rosa Jellinek ihren TikTok-Account öffnet, dann finden sich dort Nachrichten und Kommentare wie "Ihr Juden kontrolliert doch die Medien", "Ich finde dich" oder "Pass auf, ich weiß, wo du wohnst". Jellinek ist Mitte 20, sie ist Jüdin und arbeitet für das Projekt "OY VEY! Plattform gegen Verschwörungsmythen". Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, Gegenrede zu verschwörungsideologischen Inhalten online zu erleichtern. 

    "Angefeindet wurde ich immer schon", sagt sie. Videos für Social Media produziert Jellinek seit fast fünf Jahren. Bevor sie zu "OY VEY!" kam, arbeitete sie unter anderem für die Bildungsstätte Anne Frank oder Keshet Deutschland, einen Verein queerer Menschen in der jüdischen Gemeinschaft. "Aber seit dem 7. Oktober, dem Tag des Angriffs auf Israel durch die Hamas, hat das eine ganz neue Dimension erreicht", sagt sie. "Diese Zahl an Beleidigungen, Todeswünschen oder Verschwörungserzählungen kannten wir vorher nicht."

    Der Anstieg macht sich auch in den Zahlen zu antisemitischen Vorfällen in Deutschland bemerkbar. Im ersten Monat nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel haben Meldestellen in Deutschland bundesweit 994 antisemitische Vorfälle dokumentiert, 320 Prozent mehr als der Durchschnitt 2022, berichtete der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) in Berlin. Als Tatorte nennt Rias neben öffentlichen Gebäuden, Straßen oder Fußballstadien vor allem einen Ort: das Internet. 197 der gemeldeten Vorfälle ereigneten sich online, meist in den sozialen Netzwerken.

    TikTok kommt dabei eine besondere Rolle zu – aus zwei Gründen. Erstens: Die TikTok-Nutzerinnen und -Nutzer sind besonders jung. Etwa 60 Prozent sind unter 30, die Hälfte davon minderjährig. Und der zweite Grund: Auf keiner anderen Plattform ist es so einfach, binnen kurzer Zeit Millionen von Menschen zu erreichen. "Da TikTok im Kern algorithmusgetrieben ist, macht es die Plattform interessant und ergiebig für die Verbreitung von Verschwörungstheorien, da bereits das erste Video eines Accounts – zumindest in der Theorie – viral gehen kann", sagt Marcos Bösch. Er forscht an der HAW Hamburg zu Desinformation auf der Plattform und veröffentlicht den wöchentlichen Newsletter "Understanding TikTok".

    Der Algorithmus wählt für jeden, der die App öffnet, personalisierte Videos aus – basierend auf den bisherigen Nutzungsdaten. Wer sich also in der Vergangenheit Beiträge zum Krieg in Nahost angesehen hat, dem werden mit großer Wahrscheinlichkeit weitere solcher Videos angezeigt. "Die Funktionsweise der Plattform ist natürlich ein Vorteil für uns, weil wir mit unseren Videos viele Menschen erreichen", sagt Jellinek. Man braucht nicht unbedingt einen Account mit vielen Followern, um ein großes Publikum zu erreichen. "Das Gleiche gilt aber auch für Accounts, die in Ihren Videos Antisemitismus verbreiten und ihr Publikum aufhetzen."

    Prominentes Beispiel: Aktuell ermittelt der Staatsschutz gegen Aarafat Abou-Chaker, den Chef eines bekannten arabischstämmigen Clans, wegen Volksverhetzung auf TikTok. Der sagte in einem Video: "Ganz ehrlich: Für mich ist Adolf Hitler besser als Netanjahu." Inzwischen ist das Video nicht mehr auffindbar.

    "Wir müssen dahin, wo viele dieser Verschwörungserzählungen verbreitet werden"

    TikTok selbst verweist darauf, Videos wie das von Abou-Chaker konsequent zu löschen. "Im vergangenen Jahr hat TikTok 100 Prozent der antisemitischen und Holocaust leugnenden Inhalte entfernt", schreiben die Betreiber. "In neun von zehn Fällen entfernt TikTok Hassrede, bevor diese gemeldet wird."

    Für Rosa Jellinek reichen diese Bemühungen aber nicht. "Sicherlich wird auf TikTok auch viel gelöscht, es rutscht aber immer noch einiges durch. Und da sehe ich die Betreiberinnen und Betreiber der Plattformen voll in der Verantwortung, sowas nicht passieren zu lassen", sagt sie. "Im Gegensatz zu anderen Plattformen, finde ich aber, dass TikTok verhältnismäßig viel macht."

    Gleichzeitig sind die Anfeindungen und Verschwörungstheorien auf den Plattformen auch ein Grund, warum Jellinek und ihre Kolleginnen weiterhin auf TikTok aktiv sind. "Wir müssen dahin, wo viele dieser Verschwörungserzählungen verbreitet werden", sagt sie. "Nur so können wir effektiv darüber aufklären." Fest Überzeugte würde man damit zwar nicht erreichen. "Aber diese Videos sehen eben auch junge Menschen, die damit auf TikTok erstmals in Berührung kommen. Die wollen wir erreichen."

    Das will auch Susanne Siegert. Die 31-Jährige informiert in ihren Videos über antisemitische Codes, über die Geschichte des Holocausts und den heutigen Umgang damit. "Seit dem 7. Oktober muss ich viel mehr Kommentare löschen als zuvor", sagt sie. "Häufig sind das Relativierungen. Unter einem Video über den Holocaust wird dann kommentiert: Schau doch mal nach Gaza, was die Juden dort machen." Andere leugnen gar den Holocaust oder spielen die Opferzahlen herunter.

    Content Creatorin Susanne Siegert zeigt die Startseite ihres Tiktok-Accounts.
    Content Creatorin Susanne Siegert zeigt die Startseite ihres Tiktok-Accounts. Foto: Sebastian Willnow, dpa

    Umso wichtiger sei es, auf den Plattformen präsent zu sein. "TikTok ist heute eine der wichtigsten Informationsquellen für junge Menschen, gerade da muss eine solche Aufklärungsarbeit passieren."

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