„Kettcar“ heißt eine Hamburger Indie-Rockband, die eher unter dem Radar des breiten Musikpublikums fliegt. „Nur weil man sich so daran gewöhnt hat, ist es nicht normal“, lautet eine Liedzeile – für Lars Klingbeil trifft sie die Situation der SPD ziemlich gut. Der Neue an der Spitze der ältesten Partei Deutschlands ist ein Rockfan, war selbst mal Sänger und Gitarrist einer Band. Beim Bundesparteitag in Berlin erinnert er an die noch gar nicht so lange zurückliegenden schweren Zeiten der Sozialdemokratie, als sich viele scheinbar schon gewöhnt hatten an die unterirdischen Umfragewerte. Doch er habe sich geweigert, sie als normal hinzunehmen, sagt der 1,96-Meter-Mann. Klingbeil: „13, 14 Prozent, wie festgetackert in den Umfragen, wir wurden abgeschrieben, wir wurden bemitleidet, wir mussten die Frage beantworten, warum wir überhaupt einen Kanzlerkandidaten aufstellen.“
Inzwischen ist das scheinbar Undenkbare geschehen. Die SPD ist stärkste Kraft im Bundestag und Olaf Scholz Kanzler der Republik . Klingbeil hat als Generalsekretär seinen Wahlkampf organisiert. Er gilt als Schlüsselfigur der Wiederauferstehung der SPD, die in den Abgrund der Bedeutungslosigkeit geblickt hatte. „Wir haben an uns geglaubt, nicht aufgegeben und gekämpft“, sagt der Soldatensohn aus der Lüneburger Heide. Nun bloß nicht an den neuen Status als Kanzlerpartei gewöhnen, der Erfolg ist nicht normal – das ist das Credo von Klingbeil, der künftig neben Saskia Esken die SPD führt. „Ein Sieg bei einer Bundestagswahl reicht mir nicht. Ich will, dass dieser Weg weitergeht“, gibt sich Klingbeil kämpferisch.
Auch wegen Corona: Echte Parteitagsstimmung kommt nicht auf
Das SPD-Bundestreffen am Samstag im riesigen Sichtbeton-Würfel „City Cube“ auf dem Berliner Messezentrum steht unter ganz besonderen Vorzeichen. Nach schweren Jahren gäbe es eigentlich viel zu feiern. Den Wahlsieg, auch den Koalitionsvertrag, der Herzenswünsche wie den Mindestlohn von zwölf Euro in Erfüllung gehen lässt. Erstmals seit den Zeiten von Gerhard Schröder, dessen Kanzlerschaft vor 16 Jahren endete, ist wieder ein amtierender SPD-Regierungschef in der Halle. Doch echte Parteitagsstimmung kommt nicht auf.
Wegen der Corona-Pandemie sind die meisten der rund 600 Delegierten nicht persönlich dabei, sondern digital zugeschaltet. Nur die erweiterte Führungsriege ist komplett angetreten, vor dem Podium sitzt Olaf Scholz und lächelt. Für den Bundeskanzler geht es an diesem Tag in der Theorie eigentlich um nichts, praktisch aber um fast alles. Denn anders als die Kanzlerin und viele Kanzler vor ihm greift er selbst nicht nach dem Vorsitz seiner Partei. Reibungslos regieren kann der 63-Jährige aus Hamburg aber nur, wenn ihm die SPD in den kommenden Jahren den nötigen Rückhalt gewährt.
Selbstverständlich ist das nicht. Denn für viele aus dem linken Spektrum seiner Partei ist Scholz viel zu konservativ. Noch vor zwei Jahren verwehrte ihm die Mehrheit der Mitglieder den Vorsitz.
Versprechen von Esken: SPD als "linke Volkspartei"
Scholz braucht als Kanzler also eine Art Scharnier zur Basis, bilden soll es die Parteispitze. Dass die 60-jährige Esken und der 43-Jährige Klingbeil zum künftigen Führungs-Doppel bestimmt werden würden, daran gibt es vor der Abstimmung keinen Zweifel, Gegenkandidaten stehen nicht zur Wahl. Doch wie hoch wird jeweils die Zustimmung ausfallen?
Die Ergebnisse werden mit Spannung erwartet, gelten sie doch als Lackmustest für die Stimmung in der Partei. Bröckelt die Harmonie, zeigen sich erste Risse in der sozialdemokratischen Eintracht? Brechen die alten Konflikte wieder auf zwischen der Parteilinken und dem konservativen Flügel? Als das Ergebnis von Saskia Esken, der linken Digitalpolitikerin aus Calw verkündet wird, kneift sie die Augen kurz zusammen. Mit nur 76,7 Prozent wird sie im Amt bestätigt, immerhin etwas mehr als die 75,9 Prozent mit denen sie vor zwei Jahren gewählt wurde. Zuvor hatte sie versprochen, mitzuhelfen, dass die SPD die „linke Volkspartei“ sein könne, die das Land so dringend brauche.
Vor zwei Jahren war die SPD kurz vor dem Verschwinden
Lars Klingbeil schneidet deutlich besser ab. 86,3 Prozent der Delegierten stimmen für ihn. Der Scholz-Vertraute ist Mitglied des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD-Bundestagsfraktion, die Doppelspitze ist also nicht mehr ausschließlich links geprägt.
Klingbeil folgt auf Norbert Walter-Borjans, der nach eigenen Angaben „mit Dankbarkeit, aber auch mit einer Träne im Knopfloch“ geht. Für ihn ist die Mission, seine Partei in schwierigen Zeiten auf Kurs zu bringen, beendet. „Die SPD ist wieder da“, sagt der 69-Jährige. Als er vor zwei Jahren zusammen mit Esken übernahm, da war die deutsche Sozialdemokratie kurz vor dem Verschwinden. Tief zerstritten und ebenso tief im Umfrage-Keller. Als Juniorpartnerin der Union zwar an der Regierung, gefühlt aber in der Opposition. Frustriert hatte Andrea Nahles als Vorsitzende hingeworfen. In einem langwierigen und die Öffentlichkeit teils befremdlich an eine Casting-Show im Privatfernsehen erinnernden Verfahren wurde dann eine neue Führung gesucht. Eine Doppelspitze wurde gesucht, weil die SPD sehnsüchtig auf die Grünen schielten, die mit dem Duo Annalena Baerbock und Robert Habeck glänzten. Am Ende gaben die Mitglieder dem linken Tandem Esken und Walter-Borjans den Vorzug vor Olaf Scholz und Klara Geywitz.
Wahlerfolge führen nur über die Mitte der Gesellschaft
Scholz schien damals politisch am Ende. Heute ist er Kanzler, Geywitz hat er in seinem Kabinett zur Bauministerin gemacht. Eine unglaubliche Wendung, die Walter-Borjans als Brückenbauer mit ermöglich hat. „Es musste anders werden und durch eine neue Kultur des Miteinanders ist es anders und auch besser geworden“, sagt er. Die zerstrittenen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben wieder mit- statt übereinander geredet. So kam es, dass die Partei sich zwar einerseits stärker auf ihre linke Seele besann, anderseits aber erkannte, dass Wahlerfolge nur über die Mitte der Gesellschaft führen. Der pragmatische, einer breiten Öffentlichkeit bekannte Vizekanzler und Finanzminister Scholz bekam seine Chance als Kanzlerkandidat. Er nutzte sie.
Dass Scholz als Regierungschef künftig nicht schalten und walten kann, wie er will, sondern auf seine Partei Rücksicht nehmen muss, das macht Walter-Borjans am Ende noch einmal deutlich. Er erinnert an die vielen Veranstaltungen mit der Basis, bei denen die neue, linkere Programmatik entwickelt wurde. An die Mitglieder appelliert er: „Lasst Euch diesen Zuwachs an Mitsprache nicht mehr nehmen.“
Kühnert organisiert künftig den Wahlkampf
In der Ampel-Koalition mit den Grünen und vor allem der wirtschaftsfreundlichen FDP darf Scholz die linken Werte der Basis nicht vergessen. Dafür wird auch künftig Kevin Kühnert sorgen. Als Juso-Chef hatte er noch Stimmung gegen Scholz als Parteichef gemacht. Jetzt ist er als Generalsekretär dafür zuständig, die verschiedenen Ebenen der Partei bei Laune zu halten. Er wird also einerseits Scholz’ Politik an der Basis erklären müssen, andererseits deren Forderungen an den Kanzler herantragen.
Angewiesen ist Scholz auf Kühnert auch, wenn er nach vier Jahren das Kanzleramt nicht schon wieder verlassen will. Denn der 32-Jährige ist künftig für die Organisation des Wahlkampfes zuständig. In seiner kämpferischen Bewerbungsrede verspricht er, „konzentriert an unserem Programm zu arbeiten“. Es brauche „kein ritualisiertes Heckmeck zwischen der Basis-SPD und der Regierungs-SPD, um uns zu erinnern, dass unsere Partei noch am Leben ist“, warnt Kühnert.
Hat die Ikone der jungen Parteilinken etwa Kreide gefressen? Ganz so leicht wird er es Scholz dann wohl doch nicht machen. Einige Punkte im Programm, so fordert er, müssten deutlich nachgeschärft werden. Etwa, wenn es um den Zusammenhang von Zuwanderung und Fachkräftemangel gehe oder um die geplante Bürgerversicherung.
Statt Kapuzenpulli trägt Kühnert einen schwarzen Rollkragenpullover und setzt so auch optisch das Zeichen, wie ernst er sein neues Amt nimmt. In den Arm nimmt ihn in einer fast mütterlich wirkenden Geste seine linke Mitstreiterin Saskia Esken, reicht einen Strauß roter Rosen. Mit 77,8 Prozent hat Kühnert kaum besser abgeschnitten als sie.
Hohe Bedeutung für Landtage in der längerfristigen Parteistrategie
Neu wählen die Delegierten auch die stellvertretenden Parteivorsitzenden. Saar-SPD-Chefin Anke Rehlinger schneidet mit 90,7 Prozent am besten ab, Rückenwind für ihre Kandidatur als Ministerpräsidentin ihres Bundeslandes im kommenden Jahr. Im Amt bestätigt werden auch Arbeitsminister Hubertus Heil (88,6 Prozent), Serpil Midyatli aus Schleswig-Holstein mit 85,7 Prozent und Klara Geywitz mit 81 Prozent. Neu in die Führung rückt der nordrhein-westfälische SPD-Chef Thomas Kutschaty auf, er erhält 84,7 Prozent. Er will im kommenden Jahr Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen werden. Auch in Schleswig-Holstein möchte die SPD im kommenden Jahr die Landesregierung übernehmen, in Niedersachsen will der amtierende Stephan Weil Ministerpräsident bleiben. In der längerfristigen Parteistrategie kommt den Landtagen hohe Bedeutung bei. Denn noch kann die Union im Bundesrat viele Vorhaben blockieren.
Wie sehr die Corona-Pandemie ihren Schatten über diesen Parteitag wirft, zeigt sich, als das geplante Grußwort der sozialdemokratischen schwedischen Ministerpräsidentin Magdalena Anderson kurzfristig abgesagt werden muss. Weil ein Mitglied ihrer Delegation positiv auf das Coronavirus getestet worden ist, darf sie den Berliner Flughafen nicht verlassen, muss nach Stockholm zurückfliegen.
Erhöhung des Mindestlohns als zentrales Wahlversprechen
Das letzte Wort, anders kann es bei diesem Parteitag nicht sein, hat Olaf Scholz. Der neue Kanzler wirbt um Unterstützung für die Umsetzung des Koalitionsvertrags, bei dem es darum gehe, Herausforderungen wie den Klimawandel, die Globalisierung und die „Bedrohung durch ein global verbreitetes Virus“ zu bewältigen. Er kündigt ein „Jahrzehnt des Fortschritts“ an und eine Politik des „Respekts vor unterschiedlichen Lebenseinstellungen und Lebensleistungen“. Sein zentrales Wahlversprechen, die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro, werde er nun rasch umsetzen. Scholz spricht über Herausforderungen, über Veränderungen, auch über Bedrohungen. Doch mit der SPD und ihm als Kanzler müsse sich niemand davor fürchten: „Es geht gut aus, das ist die Botschaft.“