Es dauert einen Tag, bis Issa al H. aufgibt. 26 Stunden sind schon seit nach der Messerattacke auf dem Stadtfest in Solingen vergangen. 26 Stunden, in denen der Syrer sich vor dem Großaufgebot der Polizei versteckt hielt. Dann, am Samstagabend, kurz nach 23 Uhr, stellt sich der islamistische Attentäter schließlich einer Polizeistreife mit den Worten: „Ich bin der, den ihr sucht.“ Widerstandslos lässt sich der 26-Jährige festnehmen – vom Regen völlig durchnässt und im blutverschmierten T-Shirt. Offenbar ist Issa al H. vorher stundenlang durch die Stadt geirrt und hat sich zuletzt in einem Hinterhof vor den Einsatzkräften verschanzt. Personensuchhunde sind auf seine Fluchtspur angesetzt worden. Auf jenen Mann, der am Abend zuvor eine blutige Spur durch die Innenstadt gezogen haben soll.
Die blutige Klinge hatte er in einen Mülleimer geworfen
Wie unsere Redaktion aus Sicherheitskreisen erfuhr, lief der Verdächtige zunächst in seine Flüchtlingsunterkunft in der Solinger Innenstadt. Dort aber soll sich al H. nicht lange aufgehalten haben. Offenbar war ihm klar, dass die Terror-Fahnder bald in dem Asylheim auftauchen würden. Erneut verschwand er in die Dunkelheit. Bei der Durchsuchung seines Zimmers fanden die Ermittler die Messerhülle der Tatwaffe. Die blutbefleckte Klinge hatte der mutmaßliche Terrorist zuvor während seiner Flucht zusammen mit seiner Jacke in einen Mülleimer geworfen, nur drei Minuten vom Tatort entfernt. In der Jacke befand sich zudem der Ausweis von al H.
In der Unterkunft nahmen die Ermittler auch einen guten Bekannten des Messerstechers als Zeugen in Polizeigewahrsam. Er soll al H. am Besten gekannt haben. Wie weiter zu erfahren war, soll der Mann sich bei der Festnahme sehr kooperativ gezeigt habe. Er werde alles sagen, soll er den Beamten erklärt haben. Zuvor war ein 15-jähriger Jugendlicher aus Kirgisien festgesetzt worden. Eine Besucherin des Stadtfests will ein Gespräch zwischen dem Schüler und al H. mitbekommen haben. Demnach soll der Syrer seine Mordserie mit folgenden Worten angekündigt haben: „Heute steche ich alle ab.“
Das „Festival der Vielfalt“, mit dem Solingen am Wochenende sein 650-jähriges Bestehen auf mehreren Bühnen in der Stadt feiern will, endet am Freitagabend abrupt. Es ist 21.37 Uhr, als die ersten Notrufe bei der Polizei eingehen: Eine männliche Person steche vor der Bühne auf dem Fronhof auf Menschen ein. Dabei habe er auf den Hals der Opfer gezielt, berichtet Thorsten Fleiß, Polizeiführer in der Nacht, später. Ein 67-Jähriger und ein 56-Jähriger sterben, ebenso eine 56-jährige Frau. Der Täter verletzt acht weitere Menschen, vier davon schwer. Die Veranstalter brechen das Programm auf den zwei anderen Bühnen kurz nach dem Anschlag ab und bitten die Solingerinnen und Solinger, die Innenstadt zu verlassen. Die geplanten Feierlichkeiten für das restliche Wochenende werden abgesagt.
Es ist ein Albtraum, der Solingen an diesem Wochenende heimsucht. Just an diesen Tagen, an dem die Stadt eigentlich das Leben feiern will. Nach dem Messerangriff gelingt es dem Täter, im Tumult und in der sich anfangs ausbreitenden Panik zu entkommen, eine Videoüberwachung der Polizei gab es nicht. Es ist wenig, was die Behörden der verunsicherten Bevölkerung sagen können. Gibt es ein gesichertes, veröffentlichbares Foto von dem Angreifer? Nein. Was war das Motiv? Schwierig zu sagen. In den sozialen Netzwerken überschlagen sich da bereits die Kommentare.
Die Ermittler rufen Zeugen auf, weiterhin Bilder und Videos über das Hinweisportal zu teilen. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) appelliert am späten Samstagnachmittag, Geduld angesichts der polizeilichen Ermittlungen zu haben. „Jede Minute, jede Stunde“ der Ermittler seien nun wichtig, um den Täter zu fassen. Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) nennt den Anschlag einen Akt des Terrors gegen die Sicherheit und Freiheit Nordrhein-Westfalens, „gegen die Art, wie wir hier leben und feiern“. Und er betont: „Wir werden uns nicht erschüttern lassen von Terror und Hass. Wir werden unsere Art zu Leben verteidigen.“
„Gemeinsam sind wir stark“ hat jemand in ein Herz geschrieben
Der Fronhof, jener Marktplatz in der Solinger Innenstadt, der zum Schauplatz der brutalen Messerattacke wurde, ruht am Samstag fast schon gespenstisch hinter dem Flatterband der Polizei. Sichtschutzwände verstellen den direkten Blick auf den Tatort. Ein paar hundert Meter weiter, vor der evangelischen Stadtkirche, legen Menschen Blumen nieder, still und gefasst. Eine Regenbogenfahne wurde auf dem Boden ausgebreitet, beschwert von Grabkerzen. Daneben liegt ein Transparent: „Du bist nicht allein“, steht darauf. Mit bunten Stiften wurde unterschrieben. „Gemeinsam sind wir stark“ hat jemand in ein großes Herz geschrieben.
Es ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass sie um gewalttätig verletzte oder ermordete Mitmenschen trauern. 1993 erlangte die Stadt zwischen Düsseldorf, Wuppertal und Köln mit ihren 160.000 Einwohnern erstmals bundesweit traurige Berühmtheit. Damals starben fünf Menschen bei einem rechtsextremen Brandanschlag. Im März dieses Jahres wurden wieder vier Menschen bei einem Brandanschlag getötet. Wie 1993 waren die Opfer Ausländer. Zwei Wochen vor dem Brandanschlag im März soll der Täter Menschen mit einer Machete angegriffen haben. Und jetzt der Anschlag am Stadtfest.
Martin Nitschke steht am Samstagmittag auf dem Kirchplatz und sagt: „Immer wieder Solingen. Wir sind echt gebeutelt.“ Trotzdem ist Nitschke zurückgekommen. In die Nähe des Ortes, wo er am Freitagabend feiern wollte. „Zehn Minuten bevor der Angriff passiert ist, bin ich noch über den Fronhof rüber zum Neumarkt gelaufen“, sagt er. Julian Grieneisen wollte in die entgegengesetzte Richtung, als ihm seine Freunde entgegenkamen. „Da gab es eine Messerstecherei“, sagt sie ihm.
Ein Mann sagt: „Inzwischen habe ich Angst, mit meiner Familie in die Stadt zu gehen.“
Martin Nitschke wiederum hat sich gewundert, dass die Band aufhörte zu spielen. „Wir dachten, die hätten eine Pause gemacht.“ Dann habe er ein Gespräch am Telefon mitbekommen, eine Frau warnte jemanden eindringlich, auf den Platz zu kommen. „Kurz darauf wurden wir von der Polizei aufgefordert, das Gelände zu verlassen.“ Die Menschen, sagt er, hätten besonnen und ruhig reagiert. „Keine Panik, kein gar nichts. Solingen hat das gesittet und verantwortungsvoll aufgenommen.“
Auch am Samstagnachmittag herrscht unter den Solingern ein Gefühl von Zusammenhalt. Ein Musiker singt Kirchenlieder: „Sein Angesicht sei euch zugewandt. Friede sei mit euch.“ Seelsorger sind ins Gespräch vertieft. „Die Menschen sind still und in sich gekehrt, aber auch solidarisch“, sagt Simone Henn-Pausch, Koordinatorin der Notfallseelsorge der evangelischen Kirche. „Dennoch erleben gerade Ältere, dass sich die Stadt verändert hat, dass es einfach immer mehr solcher Situationen gibt.“
Die evangelische Stadtkirche steht heute offen. An Tagen wie diesen kommen die Menschen hier zusammen. „Das ist der einzige Ort, an dem wir Blumen niederlegen können“, sagt Julian Grieneisen. Er ist gemeinsam mit seiner Freundin hergekommen, um der Opfer zu gedenken. Martin Nitschke hat auf dem Kirchplatz einen langjährigen Freund getroffen, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Der Mann erzählt, dass er vor 49 Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist, hier gearbeitet, seine Steuern gezahlt hat. „Aber ich habe mittlerweile einfach keine Lust mehr“, sagt er. Seine Mutter wohnte direkt hinter dem Haus, in dem es im März den Brandanschlag gegeben hat. Solingen, sagt er, war einmal schön. „Aber inzwischen habe ich Angst, mit meiner Familie in die Stadt zu gehen. Darum meide ich mittlerweile große Menschenmengen.“ Beim letzten Satz widerspricht Nitschke: „Das ist genau das, was diese Leute wollen. Darum müssen wir eigentlich sagen, ‚ihr zwingt uns nicht in die Knie‘.“
Aus dem Festgottesdienst zum 650. Stadtgeburtstag wird am Sonntagmorgen ein Trauergottesdienst, bei dem sich viele Menschen drängen. „Nun ist alles anders“, fasst Pfarrerin Friederike Höroldt zusammen. „Wir spüren in diesen Tagen unsere Hilflosigkeit und unsere Ohnmacht.“
Philipp Müller steht um diese Zeit neben dem noch immer abgesperrten Tatort und organisiert ein Fest, das es nicht mehr gibt. Auf der Bühne, vor der die Attacke geschah, stehen immer noch Instrumente. Müller würde sie gerne der Band zurückgeben. Selbst das Bühnenlicht ist noch an, die Polizei will es so – Spurensicherung. Müller war für das Musikprogramm verantwortlich, als er um 21.37 Uhr den Anruf des Bühnenmanagers bekam. Jemand habe mit einem Großmesser Menschen „abgeschlachtet“. Müller wählt drastische Worte, andere finde er nicht, um das Grauen zu beschreiben. „Ich habe gesehen, dass Sanitäter mit Herzdruckmassagen versuchten, Menschen wiederzubeleben. Sie lagen in ihrem Blut.“
Längst hat da die Terrormiliz IS den Anschlag für sich reklamiert. Der Angreifer habe die Attacke aus „Rache für Muslime in Palästina und anderswo“ verübt, hieß es in einer Mitteilung beim IS-Sprachrohr „Amak“ via Telegram. Bisher fanden sich keine konkreten Hinweise, dass der Syrer ein IS-Mitglied sein soll. Weder ist ein Treueid belegt, noch haben die Terror-Garden ein Bekennervideo veröffentlicht. Die hiesigen Strafverfolger gehen davon aus, dass es sich um einen Terroristen handelte, der sich selbst radikalisierte und dann den Anschlag durchgeführt hat. Issa al H., der aus der syrischen Provinz Deir al-Sor stammen soll, reiste nach Informationen aus Sicherheitskreisen 2022 in Deutschland ein und erhielt einen subsidiären Schutzstatus. Da er aber über Bulgarien zugewandert war, sollte er nach Sofia abgeschoben werden. Nach den sogenannten Dublin-Regeln des europäischen Asylsystems wäre Bulgarien für ihn zuständig gewesen. Der Termin für die Abschiebung im vergangenen Jahr stand schon fest. Doch al H. tauchte unter, blieb ein halbes Jahr verschwunden, ehe er sich wieder bei den Behörden meldete. Zuletzt bezog er in Solingen ein Zimmer in einem ehemaligen Finanzamt, das zu einem Flüchtlingsheim umgebaut worden war. Noch ist unklar, warum der mutmaßliche Dreifachmörder bis heute in Deutschland bleiben durfte.
Als Issa al H. am Sonntag in Karlsruhe landet, schleifen ihn schwer bewaffnete Elitepolizisten aus dem Hubschrauber in Richtung der Wagenkolonne, die ihn zum Bundesgerichtshof bringen soll. Der Syrer ist barfuß, er trägt weder Socken noch Schuhe, die Beamten drücken seinen Kopf nach unten, er selbst macht in dieser gebückter Haltung kaum einen Schritt. Wenig später erlässt ein Ermittlungsrichter Haftbefehl unter anderem wegen Verdachts der Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und wegen Mordes. Der 26-Jährige sitzt in Untersuchungshaft. Bei der Durchsuchung in seinem Zimmer entdeckten die Staatsschützer ein Messerset, aus dem eine Klinge fehlte. Diese Lücke passte zu der Tatwaffe, die sich nahe dem Tatort in einem Mülleimer fand.
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