Eigentlich ist der Platz der Republik ein Ort der Hoffnung, der idealistischen Kämpfe, der Träume. Hier am Fuß der riesigen Bronzestatue der Nationalfigur Marianne finden die meisten Pariser Demonstrationen statt. 2012 feierten die Anhänger des sozialistischen Präsidenten François Hollande dessen Wahl, nach den Terroranschlägen vom November 2015 versammelten sich die betroffenen Stadtbewohner, um sich geeint gegen den Terror zu zeigen.
An diesem grau-kühlen Mittwochabend, wenige Tage vor der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen am Sonntag, sind mehrere tausend Menschen zusammengekommen, um bei einer Demo gegen Rechts ein Signal der Geschlossenheit auszusenden. Auf der Bühne wechseln sich Musikgruppen, Aktivisten aus dem linken Spektrum und Prominente mit kurzen Auftritten ab. Auf einer Leinwand wird ein Video der französischen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux gezeigt, die dazu aufruft, „uns alle gemeinsam zu vereinen, anstatt uns spalten zu lassen“.
Gefälle zwischen den Städten und dem Land
Doch jene, die einzeln oder in kleinen Gruppen auf dem Platz stehen, wirken nicht hoffnungsfroh, sondern ratlos, ja resigniert angesichts der Erfolgsaussichten für den rechtsextremen Rassemblement National (RN). Sollte es für eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung reichen, würde die Formation um die Frontfrau Marine Le Pen demnächst die Regierung stellen, mit dem 28-jährigen Parteichef Jordan Bardella als Premierminister.
Rund ein Drittel der Französinnen und Franzosen begrüßen diese Perspektive und wählen entsprechend. Fast alle anderen lehnen sie ab - und das oft sehr vehement. „Uns tun diese Ergebnisse im Herzen weh“, sagen die Geschichtsstudentinnen Lou, Lilia und Neya, 21 und 20 Jahre alt, die zur Demo gekommen sind. Warum der RN so großen Erfolg hat? „Die wissen, wie man die Leute manipuliert, auf ihre Ängste eingeht und die Medien spielen das Spiel mit“, sagt Lou. „Aber viele gerade unserer Generation informieren sich auch nicht, sie schauen nur ein paar Videos von Bardella auf TikTok - er sieht gut aus, kann sich ausdrücken, das reicht ihnen“, ergänzt Neya. „Aber vielleicht sind wir toleranter, weil wir aus Paris kommen und sehen, dass das Zusammenleben in einer durchmischten Gesellschaft funktioniert.“
Haben die Rechtsextremen inzwischen alle Regionen des Landes erobert, so tun sie sich in den Metropolen und gerade in der Hauptstadt schwer, Fuß zu fassen. Bei der ersten Runde der Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag hat der RN hier 10,7 Prozent der Stimmen erzielt; das sind fast sieben Prozentpunkte mehr als noch 2022 - aber deutlich weniger als überall sonst in Frankreich. In 297 der insgesamt 577 Wahlkreise lag die Partei vorne, aber keiner davon liegt im Ballungsraum der Hauptstadt. Die Stadt-Land-Spaltung ist offensichtlich.
Die Mitte von früher fühlt sich von der Politik missachtet
Noch nicht einmal die Enthüllungen der letzten Tage können wohl am Wahlausgang etwas ändern. Eine der Bewerberinnen des Rassemblement National, Ludivine Daoudi, von der ein Bild mit Nazi-Kappe auftauchte, musste sich zwar zurückziehen von der Wahl. Weiter Unterstützung durch die Partei erfährt hingegen Jean-Yves Le Boulanger. Der RN-Kandidat sagte in einem Interview, er sei „kein Fascho“, denn er habe sich am Rande eines Motorrad-Treffens von einem farbigen Pfarrer segnen lassen. Um schmunzelnd hinzuzufügen: „Und ich habe ihn nicht mit meinem Motorrad überfahren.“ Später rügte ihn die Partei, Le Boulanger entschuldigte sich für seine „extrem ungeschickten“ Äußerungen.
Es sind die jüngsten Tiefpunkte eines Turbo-Wahlkampfes, in dem sich die Parteien und manchmal sogar Parteifreunde oder Bündnispartner nichts schenkten. Mit seiner überraschenden Auflösung der Nationalversammlung am Abend der EU-Wahlen Anfang Juni hat Präsident Emmanuel Macron das Land in schwere Turbulenzen versetzt. Wenige verstanden seine Entscheidung, durch die seine eigene, ohnehin nur relative Mehrheit im Parlament stark dezimiert werden dürfte. Macrons Partei ist die schwächste Kraft der drei großen Blöcke, die sich herausgebildet haben: die Rechtsextremen, die Linken und Macrons Mitte-Lager. Vielleicht können die Linken oder die Mitte eine absolute Mehrheit des RN verhindern - doch wie soll dann regiert werden, ohne klare Machtverhältnisse? Inzwischen ist immer häufiger die Rede von einer Art großen Koalition von Parteien, die einander bislang scharf bekämpften. Doch die Unsicherheit bleibt groß.
Hätte der Sommer eigentlich festlich verlaufen und unter dem Zeichen der Olympischen Spiele in Paris stehen sollen, so dominieren ihn nun bedrückende Debatten über das künftige Schicksal des Landes. Der Soziologe François Dubet, emeritierter Professor an der Universität Bordeaux, nimmt ein „politisch und sozial extrem schwieriges Klima“ wahr: „Es stehen sich zwei Frankreich gegenüber, wobei es sich nicht mehr um die traditionelle Spaltung zwischen links und rechts handelt.“ Im Zuge der Globalisierung und des wirtschaftlichen Wandels gebe es hier „die liberalen, gut ausgebildeten Kosmopoliten in den Städten“ - und dort „all jene, die sich als Verlierer dieser Entwicklung sehen und sich von Nostalgie oder Abstiegsängsten leiten lassen“.
Werden die Parteien in Frankreich zu Koalitionen gezwungen?
Zweitere leben meist in ländlichen Gebieten, wo der Staat seit langem Service-Leistungen abbaut, wo Krankenhäuser, Postämter oder Regionalbahnhöfe schließen. Die Linken haben diese Regionen an den RN verloren, weil sie sich nur noch auf die Verteidigung von Minderheitenrechten konzentrierten, sagt Dubet. „Ihre früheren Stammwähler, nämlich weiße Männer, Arbeiter oder einfache Angestellte, sahen sich nicht mehr repräsentiert. In diese Bresche schlug der RN.“ Viele Menschen fühlten sich von den Politikern verachtet, nicht gesehen. „Der RN bringt ihnen Wertschätzung entgegen, während Macron, der jung, intelligent und attraktiv ist, den geballten Zorn auf sich zieht.“
Entwicklungen wie die in Frankreich seien in vielen Ländern, von den Niederlanden bis Spanien, zu beobachten, sie führten in Großbritannien zum Brexit und in den USA zur Wahl Donald Trumps. In Frankreich kommt das Mehrheitswahlrecht, das lange den RN ausbremste und ihn nun fördern könnte, als besonderer Faktor hinzu. „Um eine Dauerkrise zu verhindern, müssen wir wohl ein wenig deutscher werden - in dem Sinn, dass es gilt, Vereinbarungen über Parteigrenzen hinaus zu schließen“, sagt Dubet. Optimistisch sei er allerdings nicht: „In der französischen politischen Kultur werden diejenigen als Verräter hingestellt, die Kompromisse mit anderen Formationen eingehen.“
Es fehle an ruhigen öffentlichen Debatten und an einem echten Austausch, stattdessen herrsche eine ständige Konfrontation vor, sagt Anne, die an diesem Mittwochabend mit ihrem Lebensgefährten Stéphane auf dem Platz der Republik steht. Er habe eine treffende Karikatur in einer Zeitung gesehen, erzählt Stéphane. Sie zeigte ein Abbild des Nationalsymbols Marianne, die sich selbst ins Bein schoss. Beunruhigt blickt er hinauf zur Marianne-Figur auf dem Platz. Statt einer Waffe trägt sie einen Olivenzweig als Zeichen des Friedens. Doch sollte der RN einen großen Triumph erzielen, werden Unruhen und Proteste in Frankreich erwartet, sozialer Unfrieden - und eine Vergrößerung der Spaltung.
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