Frau El Masrar, Ihre Familie stammt aus Marokko, Sie beschäftigen sich mit der Migration und Integration von Muslimen. Am 7. Oktober gab es die beispiellosen Verbrechen an Jüdinnen und Juden, der einen Gaza-Krieg mit Zehntausenden Toten ausgelöst hat. Wie erleben Sie diese aufwühlenden Ereignisse?
Sineb El Masrar: Kurz vor dem 7. Oktober wurde mein Handy gestohlen. Eine Freundin hat mir auf einem älteren Ersatzgerät eine SMS geschickt, in der stand, dass ich mir auf keinen Fall die Bilder von diesem schrecklichen Verbrechen anschauen soll. Ich habe dann doch einige dieser verstörenden Sequenzen gesehen. Das hat mich mehr als schockiert. Das war bestialisch. Mir war auch sofort klar, dass es eine harte israelische Reaktion geben würde.
Wie erklären Sie sich die Ausbrüche von Antisemitismus bei uns?
El Masrar: Wir sehen hier ein generelles Phänomen. Ich denke an den offenen Antisemitismus an den Universitäten in Deutschland. Das sind ja längst nicht nur Palästinenser oder Araber, die protestieren. Antisemitismus gibt es auch unter Christen und Atheisten. Natürlich hat der Hass auf Israel auch etwas mit Antisemitismus zu tun. Dieser Hass richtet sich schließlich gegen einen Staat, der Heimstätte und Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden ist und als Fremdkörper in der Region empfunden wird. Zu beobachten ist eine Enthemmtheit, die sich gegenseitig bestätigt und hochschraubt. Da entsteht eine gefährliche Dynamik, angereichert durch Verschwörungserzählungen. Diese radikalisierten Leute kann man mit Fakten kaum erreichen. Im Gegenteil: Es gelingt ihnen, andere mitzureißen. Das Erschreckende ist, dass so etwas in der Geschichte der Menschen immer wieder passiert, dass kein Lerneffekt zu erkennen ist.
Wie wurde das Messerattentat von Solingen von den Muslimen in Deutschland aufgenommen?
El Masrar: Es ist ja leider so, dass viele Muslime bestreiten, dass es so etwas wie Islamismus überhaupt gibt. Ich höre oft Sätze wie: „Das ist eine Erfindung des Westens, damit habe ich nichts zu tun.“ Natürlich trage ich als muslimische Frau keinerlei Verantwortung für Verbrechen wie in Solingen. Aber es ist eine Tatsache, dass meine Religion, der Islam, missbraucht wird für Allmachtsfantasien, für politische Ambitionen und eben auch als Rechtfertigung für Gewalt. Und das verfängt leider bei Jugendlichen, die man den Rattenfängern überlässt, die sie mit Islamismus und Salafismus ködern. Dabei haben wir eine Wahl. Wir sind soziale Wesen. Es ist nur die Frage, ob wir uns für etwas Gutes einsetzen, etwas, das Menschen nicht ausgrenzt oder ob wir uns für eine Ideologie einsetzen, die eigentlich nur unsere eigene Wut, Kränkung und Hass füttert.
Warum entscheiden sich einige Muslime für letzteren Weg?
El Masrar: Vielen jungen Muslimen wird eingetrichtert, dass der Islam perfekt und heilig ist. Dass der Glaube über allem steht, auch über der Demokratie. Wer die göttlichen Inhalte infrage stellt, gerät sofort unter Beschuss - innerhalb der eigenen Familie und der Gemeinde. Er verliert seinen Halt.
Was bedeutet die aufgeheizte Stimmung für die Muslime?
El Masrar: Also grundsätzlich darf man ja nicht vergessen, dass es auch unter Muslimen viele gibt, die atheistisch, säkular sind oder ihren Glauben hinterfragen. Doch diese Gruppe wird kaum wahrgenommen. Dabei sind es ja Massen, die in der Türkei, in Ägypten oder im Iran immer wieder kritische Fragen zum Islam stellen. In meinem Buch „Heult leise, Habibis!“ versuche ich ja gerade die Vernünftigen, die Stillen in den Fokus zu rücken. Diese große Gruppe in der muslimischen Community ist durchaus in der Lage, rationale, nüchterne und kritische Fragen zu stellen. Dass über diese Strömung in den Medien kaum berichtet wird, sondern manchmal sogar der Islam an sich dämonisiert wird, spielt den Islamisten in die Hände.
Wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen?
El Masrar: Der Zahl der Menschen, die über dieses Problem sprechen, muss viel größer werden. Die Menschen, die in den 60er, 70er oder 80er Jahren zu uns gekommen sind und seit vier oder fünf Generationen unter uns leben, unterschieden sich natürlich stark von denen, die 2015 und in den Jahren danach zu uns kamen. Sie sind längst Teil der Gesellschaft. Leider erleben wir aber jetzt die gleichen Dynamiken. Kinder werden wieder die Dolmetscher ihrer Eltern, sie müssen wieder irgendwelche Briefe übersetzen, übernehmen die Behördengänge - also in gewisser Weise die Rolle, die eigentlich ihre Eltern spielen sollten.
Fehlt es vielen jungen Muslimen an positiven Vorbildern?
El Masrar: Auch. Es gibt Kränkungen, die jeder erlebt, der in einer zu Beginn völlig fremden Welt aufwächst, in der eine ihm unbekannte Sprache gesprochen wird. Vielen gelingt es, das zu kompensieren, anderen nicht. Es gibt viele Muslime, die Rassismus und Ausgrenzung erfahren haben, aber einen Teufel tun würden, sich dem Islamismus anzudienen oder irgendwelche antidemokratischen Inhalte zu verbreiten. Diesen Leuten muss man nicht sagen, dass sie für sich selbst verantwortlich sind, die wissen das schon selbst. Mein Vater - Gott hab’ ihn selig - hat sich sofort richtig intensiv bemüht, Deutsch zu lernen, als er aus Marokko hier ankam. Aber es gibt leider auch diejenigen, die darauf warten, dass ihnen irgendjemand sagt, was sie zu tun oder zu lassen haben. Einfach, weil sie es gewohnt sind, Befehle zu empfangen.
Fehlt es an Konsequenz, Leuten, die sich nicht an Regeln halten wollen, Stoppzeichen zu setzen?
El Masrar: Konsequenz ist natürlich wichtig. Man braucht Gesetze, die durchgesetzt werden müssen. Auf der anderen Seite brauchen gerade junge Muslime Räume, um über Gewalterfahrungen in der Familie, über Scham und Ängste zu sprechen. Wenn das fehlt, besteht die Gefahr, dass auch sie Gewalt als Mittel sehen, sich durchzusetzen. Wenn sie erfahren, dass es kostbar ist, in einer Demokratie zu leben, werden sie auch etwas für die Demokratie tun.
Sie haben kritisiert, dass in vielen Islamverbänden islamistische Kräfte am Werk sind. Sind die Verbände reformierbar?
El Masrar: Da bin ich skeptisch. Man muss ja nur die Berichte des Verfassungsschutzes lesen, um zu erkennen, dass der Islamismus in vielen Verbänden tonangebend ist. Das ist so ein bisschen wie bei vielen rechtsextremen Politikern. Wenn man sich mit ihnen unterhält, sind sie ganz höflich. Aber das täuscht. Was ich nur schwer ertragen kann, ist, dass der Staat ausgerechnet diesen muslimischen Verbänden Geld für Integration, Deutschkurse, Jugendarbeit oder die Ausbildung von Imamen gibt. Dann wundert man sich, dass es diesen Organisationen in Wirklichkeit darum geht, islamistische Narrative zu verbreiten.
Könnten die AfD-Erfolge dazu führen, dass sich Zuwanderer weiter abschotten?
El Masrar: Ich glaube eher, dass grundsätzlich die Prägung aus den jeweiligen Herkunftsländern die Neigung verstärkt, sich abzuschotten. Wenn man damit aufwächst, dass alles, was nicht muslimisch ist, schlecht und verdorben ist, dann ist der Weg in die Abkapselung fast vorgezeichnet. Wer neugierig und offen ist und wirklich tolerant, der wird sich, wenn er zu uns kommt, nicht daran stören, dass der Nachbar eine andere Religion hat. Er wird im Idealfall sagen: „Du machst dein Ding, ich mach‘ mein Ding. Aber gemeinsam sind wir eine Gemeinschaft, und wir sehen zu, dass wir irgendwie gut miteinander auskommen, und ich möchte dich nicht bekehren, du bekehrst mich nicht, dann haben wir ein chilliges Leben.“ Ja, so wäre es perfekt. Da müssen wir hinkommen. Daran müssen wir hart arbeiten.
Zur Person
Sineb El Masrar, geboren 1981 in Hannover, ist Journalistin, Moderatorin und Dramaturgin. Einem breiteren Publikum bekannt wurde sie durch ihre Auftritte in Talkshows sowie kritische Bücher über die Integration von Muslimen in Deutschland, wie „Muslim Girls“, „Sind wir nicht alle ein bisschen Alman“ oder zuletzt „Heult leise, Habibis!“ El Masrar hat in der vergangenen Woche zum 120. Jubiläum der Volkshochschule Augsburg eine Lesung gehalten.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden